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Am 5. Dezember ist Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren gestorben. Als Hoffnungsträger für die Befreiung der schwarzen Bevölkerung Südafrikas wird er auch nach seinem Tod eine wesentliche Rolle spielen. Doch diese Befreiung ist zwanzig Jahre nach der Machtergreifung der ehemaligen Anti-Apartheidsbewegung African National Congress (ANC) noch lange nicht erreicht.

In diesen Tagen war viel zu lesen über Verdienste und das Scheitern von Nelson Mandela. Oft hatten die vorgestellten Betrachtungsweisen einen moralischen Beigeschmack: Von einer «herausragenden Persönlichkeit mit Werten wie Gerechtigkeit, Frieden, Respekt, Toleranz und Menschlichkeit» sprach Bundesrat Ueli Maurer. (Wollte er mit diesen Worten die gemeinsamen Interessen und Machenschaften zwischen dem helvetischen Kapital und dem Apartheidregime vertuschen?) Ein «Kommunist im besten Sinn» wird Mandela von Jean Ziegler genannt. An den «Friedensnobelpreisträger» erinnert der «Tages-Anzeiger».

Aus der Sicht des historischen Materialismus geht es jedoch nicht darum, das Leben einer einzelnen Person mit einer politischen Moral zu konfrontieren. Es geht vielmehr darum, ihre Ideen und Handlungen aus dem historischen Kontext heraus zu verstehen und ihre Folgen für die heutige Situation der Ausgebeuteten nachzuvollziehen. Nur so kann tatsächlich verstanden werden, wer die politische Person Nelson Mandela war.

Im Kontext der Apartheid

Der Befreiungskampf der schwarzen Bevölkerung Südafrikas war in einen spezifischen historischen Kontext eingeschrieben, der Apartheid, der wesentlichen Bedingung für den Aufstieg des südafrikanischen Kapitalismus ab dem Jahr 1948. Die Apartheid war nicht einfach ein ökonomisches Ausbeutungssystem. Sie war ein System, welches den systematischen Zwang benötigte, um sein Überleben zu garantieren. Die Unterdrückung der Schwarzen bildete sein wesentliches Element. Der Staat belieferte die Industrie mit billigen schwarzen Arbeitskräften und begünstigte die nationale Produktion durch ein Ensemble von finanziellen Zuschüssen und Importrestriktionen. Zwischen 1948 und 1960 wuchs das BIP um 67 Prozent. Südafrika wurde zu einem Paradies für InvestorInnen – so auch für schweizerische Unternehmen. Vermittelt über die Arbeitsgruppe Südliches Afrika (ASA), die 1982 unter anderem von Christoph Blocher mitbegründet und von Ulrich Schlüer geführt wurde, gelangten sie in das Land. Hohe Rentabilität und Profite, eine rasche Mechanisierung der Industrie und eine rasche Proletarisierung der südafrikanischen ArbeiterInnen brachten das Land im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern in den internationalen Statistiken auf die Ränge der westlich-kapitalistischen Staaten.

Die Apartheid konnte zwar Superprofite generieren, aber sie konnte nicht verhindern, dass die schwarzen Massen revoltierten. Die konstante Drohung des Widerstandes der Schwarzen brachte somit einen massiven Repressionsapparat hervor. Es war in diesem sozio-ökonomischen Kontext, in dem Mandela und andere agierten.

Afrikanischer Nationalismus

Die Politik der ANC, massgeblich beeinflusst von der Person Nelson Mandela, orientierte sich stark an den nationalen Grenzen Südafrikas. Mehrere Aussagen von Mandela selbst weisen darauf hin, dass der ANC in keinem Moment seiner Geschichte Befürworter eines revolutionären Wandels der ökonomischen Struktur des Landes war oder die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Ganzes verurteilte. Der afrikanische Nationalismus der ANC war aber unvereinbar mit dem Nationalismus der Afrikaaner (weisse Minderheit). Das Apartheidsystem war zu abhängig von der Überausbeutung der Schwarzen und von der Institutionalisierung der «weissen Überlegenheit» in jedem Bereich des öffentlichen und privaten Lebens.

Dies hatte desaströse Folgen für die aufstrebende schwarze Mittelschicht: Die von Mandela und der ANC erarbeiteten Forderungen nach gleicher ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Partizipation, welche in der Realität also ziemlich moderat und pragmatisch blieben, stiessen bei den Herrschenden nicht auf Gehör. Und somit wandelte sich die gebildete schwarze Elite unausweichlich zur Stimme der gesamten schwarzen Mehrheit und ihre moderaten Konzeptionen zugunsten eines «gerechten Kapitalismus» zur Speerspitze der Politik des schwarzen Nationalismus. Die Unnachgiebigkeit des Apartheidregimes auch gegenüber den moderaten NationalistInnen drängte Mandela und den ANC zur Suche nach radikaleren Alternativen und schliesslich zur Allianz mit der Kommunistischen Partei Südafrikas (KPSA). Der ANC revidierte seine grundlegenden pro-kapitalistischen Positionen jedoch nie. In den 1960er Jahren, als sich der Widerstand gegen die Apartheidpolitik intensivierte, wurde der ANC als illegal deklariert und die AnführerInnen der schwarzen NationalistInnen, unter anderen Mandela 1963, verhaftet.

Der ANC benutzte die stalinistische KPSA, um sich mit den schwarzen Massen zu verbinden und um seine moderaten Positionen mit Radikalität zu tarnen. Sobald er dann jedoch im Spiel der Herrschenden mitspielen durfte, wies der ANC diese Verbindungen zurück und kehrte offen zu seinen reformistischen und marktorientierten Wurzeln zurück.

Südafrika heute

Nelson Mandela wurde nach 27-jähriger Haft 1990 aus dem Gefängnis entlassen und vier Jahre später zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Durch seine politischen Aktivitäten hat er mit Sicherheit den moralischen Rahmen der «weissen Überlegenheit» und die «natürliche Ordnung» der Apartheid herausgefordert. Er war die Personifizierung des Leidens, das die schwarze Mehrheit in einem von einer weissen Minderheit regierten Land zu erdulden hatte. Mandela gab der schwarzen Bevölkerung Südafrikas Würde und Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Doch trotz Erlangung der bürgerlichen Rechte durch die Schwarzen bleibt die Situation in Südafrika prekär. Das Pro-Kopf-Einkommen der Schwarzen liegt heute noch sechs Mal tiefer als das der Weissen, die Korruption innerhalb des regierenden ANC ist ausufernd und die weisse Minderheit besitzt die Mehrheit des Reichtums des Landes und verbarrikadiert sich in den Gated Communities der urbanen Zentren. Am 16. August 2012 schossen schwarze Polizisten, die Befehle von schwarzen Offizieren ausführten, die wiederum unter einem schwarzen Präsidenten agierten, auf Protestierende aus Marikana und töteten 34 schwarze Minenarbeiter, um die Interessen des grossen britischen Minenunternehmens Lonmin zu verteidigen. Das Erbe der langjährigen Politik der ANC lastet noch heute schwer auf dem schwarzen Subproletariat Südafrikas.

Die Krise in Europa ist bei weitem nicht zu Ende. Die Schweiz als ökonomisch stark an die EU gebundenes Land bleibt von den Folgen der Krise nicht verschont. In der Linken werden breit Krisenanalysen und politische Strategien zum Ausgang aus der Krise formuliert. Doch kaum jemand wagt sich an die Frage, wie die herrschende Produktionsweise aufgehoben werden könnte.

Anfang August trafen sich die JungsozialistInnen der Schweiz (Juso) im Wallis zum jährlichen Sommerlager. Im Zentrum des Ausbildungscamps stand die „1:12“-Initiative, mit der die Juso wieder Fragen um (Um-)Verteilung und „soziale Gerechtigkeit“ aufs politische Tapet bringen will. Mit der von Gewerkschaften und SozialdemokratInnen lancierten Mindestlohninitiative gehört die „1:12“-Initiative sinnbildlich zu einer linken Krisenpolitik, welche mit Hilfe des Staates die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen verbessern solle. Die Bourgeoisie nimmt diese Bestrebungen ernst. Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) betreibt seit Monaten eine Kampagne gegen die sozialdemokratischen Anliegen, Tag um Tag werden Studien und Kommentare publiziert, welche die negativen Folgen einer staatlich regulierten Lohnpolitik (Arbeitsplatzvernichtung, Abgang von Topmanagern, Steuerausfälle etc.) aufzeigen sollen.

In der linken Krisenpolitik geht es jedoch nicht mehr um Klassenkampf, sondern fast ausschliesslich nur noch um Abstimmungskampf. Für einen Abstimmungserfolg wird auch nicht zurückgeschreckt, die Waffen der Gegner anzuwenden. Praktische Politik heisst heute in der Linken in erster Linie Rhetorik- und Medientraining. Diese politischen Strategien basieren auf der Überzeugung, die vom Kapitalismus produzierten Institutionen können durch genügend politischen Druck und durch ihre Umgestaltung für das Wohl aller (siehe den SP-Slogan „Für alle statt für wenige“) benutzt und die Krise verscheucht werden.

Linke Reformillusionen

Dass es bei den Vorschlägen einer „Umsteuerung der sozioökonomischen Entwicklung“ auch um die berechtigte Angst vor den sozialen Folgen der globalen Krise geht, daran besteht kein Zweifel. Doch verschwindet aus diesen Überlegungen der Gedanke an die Sachzwänge der politischen Ökonomie vollständig. Es liegt aber in der Natur des kapitalistischen Gesellschaftssystems, dass Hochkonjunkturen irgendwann zur allgemeinen Überproduktion mutieren und die Profitrate sinkt. Das Kapital kann seine Akkumulation längerfristig nur über die vorübergehende Zerstörung von Arbeit und Kapital selbst retten. Dieser Prozess ist durch keine gut gemeinte Umverteilungspolitik zu „bereinigen“.

Dadurch wird auch der Staat als „Kampffeld“ verstanden, auf dem es mitzumischen gilt. Die Krisen-Lösungsvorschläge beschränken sich denn auch auf eine „bessere“ Wirtschaftspolitik oder auf künftige Regierungsbeteiligungen (siehe zum Beispiel Syriza in Griechenland). Solche Reformillusionen helfen niemandem wirklich. Vielmehr werden dadurch mögliche Klassenkämpfe in institutionelle Bahnen gelenkt und „befriedigt“.

Mythos Neoliberalismus

Damit einher geht die Kritik am „Neoliberalismus“, der als Rückzug des Staates aus der ökonomischen Sphäre zwecks Bereicherung der Reichen verstanden wird, und der Verweis auf die besseren Zeiten der „sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit“. Die „goldenen“ Jahre des Kapitalismus (1950-1980) basierten jedoch gerade auf der Vernichtung von Kapital während des Zweiten Weltkrieges und auf einem nachfragestützenden Sozialstaat. Der Sozialstaat stellt also kein Gegenstück zum Kapitalismus dar, sondern seine ergänzende Institution. Die wirkliche Natur des Sozialstaates kam dann zum Vorschein, als der Kapitalismus in den 1980er Jahren wieder in eine Krise stürzte und auch der Sozialstaat daran nichts ändern konnte. Keine einzige Krise in der Geschichte wurde über den sozialstaatlichen Weg überwunden.

Auch das Krisenmanagement seit 2008 zeigt keine Spur neoliberaler Hegemonie. Die Regierenden haben stets auf die staatlichen Institutionen zurückgegriffen, wenn es zu brenzlig wurde (Rettungspakete, Konjunkturprogramme). Auch die radikalsten Staatskritiker-KapitalistInnen fürchten einen Crash mehr als die staatliche Rettung der bestehenden Ordnung.

Wann wenn nicht jetzt?

In ganz Europa – und auch in der Schweiz – herrscht bei den Linken das Gefühl, jetzt sei der Moment gekommen, um eine wirkliche „linke Wirtschaftspolitik“ zu propagieren, um die fragile Situation der Herrschenden auszunutzen. Hinter dieser Überzeugung steckt eine Menge Politizismus, also die Vorstellung, der Kapitalismus liesse sich auf politischem Wege und schrittweise per Reformen aufheben. Doch eine „soziale Krisenlösung“ gibt es nicht und hat es auch nie gegeben.

Die wirtschaftliche Depression produziert Massenarbeitslosigkeit (die Hälfte der spanischen, griechischen und italienischen Jugendlichen sind ohne Arbeit) und eine autoritäre und repressive Reaktion auf Platzbesetzungen, Wiederaneignung von geräumten Wohnungen und Arbeitskämpfen. Wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, über die Abschaffung des Lohnsystems, über das Ende des Staates und über die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Menschen zu sprechen? Die globalen Kämpfe werden die Krise nicht lösen, sondern sie unausweichlich verschärfen. Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst, jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung. Jene Frage, die sich Linke in ihrer Reformborniertheit schon gar nicht mehr stellen.

Interview vom 17. September 2013 mit Timo Bartholl, der seit einigen Jahren in Rio lebt und politisch aktiv ist. Eine gekürzte Version dieses Interviews erscheint am 27.09.2013 in der schweizerischen Zeitung „vorwärts“ (www.vorwaerts.ch). Diese Langversion ist online zugänglich unter http://www.debatteforum.wordpress.com

Brasilien gehört weltweit zu den Ländern, die sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt haben. Wie kann dieser Prozess der kapitalistischen, sozio-ökonomischen Entwicklung beschrieben werden?

Das Wirtschaftswachstum Brasiliens ist gekennzeichnet durch Faktoren, die auch für andere BRIC-Länder charakteristisch sind, auch wenn wiederum jedes dieser Länder einen eigenen Mix an Faktoren aufweist. Für Brasilien können wir sagen, dass das Volkseinkommen absolut zugenommen hat, ohne dass sich jedoch massgeblich etwas an der extrem ungleichen Einkommensverteilung oder der Sozialstruktur geändert hat. Hierfür ist ein Indiz, dass viele der extrem Armen sich über Wasser halten, indem sie im Rahmen von Sozialprogrammen wie Bolsa Família durch Umverteilung einige Krümel des grossen Kuchens abbekommen und nicht, weil sie als Arbeitskräfte so in die Wirtschaft eingebunden sind, dass sie sich über Lohnarbeit am Leben halten können. Sicherlich finden wir die extremste Armut eher auf dem Land und eher im Norden und Nordosten Brasiliens, aber auch die grossen Städte sind von extrem ungleichem Zugang der BewohnerInnen zu jedweden Ressourcen geprägt.

In den Metropolen sind im Rahmen einer Ankurbelung der Binnennachfrage auch die Ärmeren zu umworbenen Konsument_innen geworden. Es vergeht keine Woche, da nicht irgendwo hier in der Nachbarschaft meiner Favela ein Karton eines neu erworbenen 40-Zoll-Flachbild-Fernsehers auf dem Müll liegt. Der Zugang zu materiellen Gütern ist auch für die ärmeren Klassen leichter geworden. Dabei wird allerdings ein Grossteil des Konsums über Kredite oder Ratenzahlungen finanziert, so dass es durchaus ökonomische Unsicherheitsfaktoren gibt. Es ist demnach immer mit Vorsicht zu geniessen, wenn regierungsnahe Forschungsinstitute den gestiegenen Wohlstand des Volkes über Kennzahlen wie „Familien mit x Kühlschränken, y Fernsehern und z Pkw“ meinen belegen zu können.

Hierbei ist ein Blick auf Art und Qualität dieser Entwicklung wichtig. Die Zunahme des materiellen Wohlstands nach rein westlichem Modell produziert neue Formen von Engpässen. Je mehr Menschen sich über Kredite finanziert in einer Metropolitanregion wie Rio de Janeiro oder São Paulo einen eigenen Pkw leisten können, desto länger werden die alltäglichen Verkehrstaus, die die grossen Ausfallstrassen zu Rush-Hour-Zeiten eher wie kilometerlange Parkplätze, denn wie Verkehrswege aussehen lassen. Wir können uns also mit dem Pkw unser eigenes blechernes Gefängnis leisten, in dem wir täglich einige Stunden eingesperrt im Stau verbringen. Auch die Basisinfrastruktur hält in keinem Falle mit diesen Entwicklungen mit: Im Hochsommer benutzen auch hier in den Favelas mittlerweile viele eine leistungsstarke Klimaanlage für ihre Wohnung, um trotz nächtlich-urbaner Tropenhitze für ein paar Stunden Schlaf zu finden. Da diese wiederum alle gleichzeitig eingeschaltet werden und so das prekäre Stromnetz überlasten, haben wir dann nächtelang nicht einmal Strom für den Ventilator. Die Wasserpumpen versagen auch den Dienst und als Erlösung bleibt nur eine Eimer-Dusche oder natürlich ein eiskaltes Bier.

Aus eher makroökonomischer Sicht müssen wir die Zusammensetzung der Ökonomie betrachten: In welchen Sektoren und mit welchen Mitteln findet Wirtschaftswachstum statt? Sei es die Agrarindustrie, die bevorzugt Export-Produkte wie Soja produziert und dabei Weltmeister im Einsatz von Agrarchemikalien ist, die auf vorwiegend genmanipulierten Varietäten versprüht werden und Agrarwüsten produzieren. Oder sei es in der Rohstoffextraktion, in der tonnenweise Rohstoffe gefördert und ausgebeutet werden, wie es sich kein Kolonialherr hätte träumen lassen. Dass unter Zusammenarbeit von PT-Regierung und Thyssen-Krupp westlich von Rio de Janeiro mit dem Bau eines Stahlwerks einer der grössten Skandale der Industriegeschichte fabriziert wurde, ist dabei keine einmalige Ausnahme, sondern ein mögliches Ergebnis der allgemeinen Logik, die hinter der Entwicklung steckt. Es geht um Wirtschaftswachstum um jeden Preis, oder besser für jeden potentiell machbaren Gewinn, wobei die Menschen nur insofern eine Rolle spielen, als sie als Konsument_innen auftreten. Je ärmer, desto irrelevanter sind sie demnach auch.

Für ganz Lateinamerika drückt sich diese Art von Wirtschaftspolitik – gerade auch durch progressive Regierungen wie die der Arbeiterpartei PT gefördert – gut im IIRSA-Plan aus. In dessen international vereinbartem Rahmen geht es darum, den gesamten Kontinent durch Infrastruktur-Grossprojekte besser an den Weltmarkt anzubinden. Neue Verkehrs- und Wasserwege werden quer durch den Kontinent gebaut, und nicht selten finden sich territorial verankerte ethnische Minderheiten ähnlich gewaltsamen Situationen ausgeliefert, die die letzten fünfhundert Jahre der Geschichte des Kontinents prägen. Die Adern Lateinamerikas sind weiterhin weit offen, um auf ein Buch Eduardo Galeanos Bezug zu nehmen, das so schnell nicht an Aktualität einbüssen wird.

Zu diesen Entwicklungen gehören auch kapitalistische Urbanisierungsprozesse. Gerade in Rio de Janeiro werden nun angesichts der Fussball WM 2014 und von Olympia 2016 massive Bauinvestitionen getätigt. Wie können diese Urbanisierungsprozesse beschrieben werden und was bedeuten sie für die Proletarisierten (in den Favelas)?

Grossevents in Städten wirken als Beschleuniger für ohnehin in der stadtpolitischen Entwicklung vorhandene Tendenzen. Sprich, wir dürfen nicht den Fehler machen, sie als alleinige Verursacher von Problemen auszumachen, sondern vielmehr muss klar sein, wie sehr die Städte als Unternehmen geführt und solche Grossereignisse zu dieser Art sie zu regieren passen. Die Kritik an diesen Prozessen ähnelt hier durchaus der Kritik an der Stadtentwicklung in den Städten des globalen Nordens, weil sich die Prozesse von der kapitalistischen Logik her sehr nahe stehen. Es sind die gleichen international vernetzten Planungsbüros, die Barcelona umzustrukturieren helfen, eine Hafen City in Hamburg planen oder eben den „Porto Maravilha“ in Rio de Janeiro, mit dem weite Teile des Zentrums und Teile des Hafens im Sinne einer Glanzprojektstadt des Investitionskapitals umgestaltet werden.

Lächerlich mutet es dabei an, wenn die Planer_innen und politischen Vertreter_innen dieser Prozesse so tun, als ginge es um mehr als das Streben nach Gewinn, basierend auf der Stadt als Ressource: Als in den korporativen Medien diskutiert wurde, ob der Kai für Luxusliner eine Y- oder H-Form haben solle (erstere würde anscheinend den Blick vom Ufer auf die Bucht versperren), kam das Argument seitens einer die H-Form verteidigenden Fachfrau, die Planung Rios müsse doch über Olympia 2016 hinausgehen und die Stadt als Ganzes betrachtet werden. Hört, hört! Rios Bürgermeister Eduardo Paes ist unterdessen in einem kurzen Video zu sehen, das im Internet verbreitet wurde in dem er offen zugibt, dass er die Grossevents bewusst als Entschuldigung für Umstrukturierungen benutzt, die bei der Bevölkerung auf Widerstand stossen. Medial versucht er sich als neuen Pereira Passos zu inszenieren, der Anfang des 20. Jahrhunderts Rios Zentrum umpflügte und „hygienisierte“, sprich einen grossen Teil der unteren Klassen gewaltsam aus dem Zentrum vertrieb.

Zumindest ist dieser Vergleich ehrlich: Allein hier in Rio müssen in den letzten Jahren über 100 Favelas Infrastrukturprojekten weichen. Und die Liste, die diese Favelas benennt, wurde direkt am Tag nach der Wahl Rios zum Austragungsort der Fussball-WM veröffentlicht! Sprich, diese Pläne existierten schon lange vorher. Mit den Entscheidungen, die Grossevents hier austragen zu „dürfen“, fielen die Investitions-Startschüsse, um in grossem Umfang die betroffenen brasilianischen Städte umzustrukturieren – über die Interessen und Bedürfnisse des Grossteils der Bevölkerung hinweg.

Wohn- und Lebenshaltungskosten sind in den Städten in kurzer Zeit so stark gestiegen, dass höhere Löhne oder leichterer Zugang zu Krediten und Konsumgütern sich im Verhältnis immer weniger positiv auswirken. Alles, vor allem natürlich die Regierungspropaganda, spricht von den vermeintlich guten Entwicklungen in der „Wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro, aber nach und nach können immer weniger Menschen in der Stadt leben, ohne grosse Einbussen der Lebensqualität hinzunehmen. Sie müssen aufgrund steigender Preise ihre Stadtviertel verlassen, werden aus der Favela vertrieben, die sie eigenhändig und kollektiv über Jahre errichtet haben.

In diesem Kontext entsteht Widerstand. Wie formiert und organisiert er sich?

Es gab während der letzten Jahre viele Formen, um gegen die gewaltsam von oben durchgedrückte Stadtumstrukturierung Widerstand aufzubauen. Sei es, dass Bewohner_innen einer Favela sich gegen ihre Zwangsräumung wehrten oder die Bildung eines Populären Komitees der Copa, das kritisch die WM-Vorbereitung begleitet. Über lange Zeit war die Schlagkraft von oben aber einfach zu gross. Auf allen Ebenen, im Stadtviertel, in einer Stadt oder in einer Region, wurden dabei so viele verbrecherische und menschenrechtsverachtende Umstrukturierungsmassnahmen zeitgleich durchgeführt, dass es schlicht unmöglich schien, im Sinne eines breiteren Widerstands überhaupt eigene Schlagkraft zu entwickeln. Zu den organisierten Formen des Widerstands gesellten sich dann ja ab Juni zum Glück die teils sehr spontanen und Millionen auf die Strassen bringenden Proteste, die dieses ungleiche Machtverhältnis etwas korrigiert haben.

Die massiven Proteste waren zunächst vor allem gegen weitere Fahrpreiserhöhungen eines prekäreren Transportnetzes und die Ausrichtung des Confed-Cups gerichtet, womit sie Kernbereiche der negativen Entwicklungen der letzten Jahre betrafen. Durch Baumassnahmen stehen die durch Räumungen oder auch steigende Mietpreise in entfernte Stadtviertel verdrängten Arbeiter_innen viel länger in überfüllten Bussen in endlosen Staus, um zu ihren Arbeitsstätten zu gelangen. Dafür sollen sie auch noch immer mehr bezahlen – wobei, wer einen geregelten Arbeitsplatz hat, vom Arbeitgeber ein Ticket bezahlt bekommt. Die vielen Millionen, die durch korrupte Politiker als öffentliche Gelder für Stadien und begleitende Infrastrukturmassnahmen durch korrupte Politiker an den mafiös organisierten Bau- und Transportsektor vergeben werden, fehlen spürbar an allen Ecken und Enden in Bereichen wie Bildung und Gesundheit. Da ist also kollektiv vielen Betroffenen zeitgleich der Kragen geplatzt. „Mit uns keine weiteren Fahrpreiserhöhungen zugunsten der Transport-Mafia“ und: „Es wird keine WM geben!“

In der Mega-Metropole São Paolo startete der Protest der Bewegung für freien öffentlichen Transport. Was steckt hinter dieser Bewegung?

Da sprichst du das interessante Verhältnis zwischen organisierten sozialen Bewegungen und spontanen Massenprotesten an. Über Jahre hinweg gab es in mehreren Städten Brasiliens eher im studentischen Milieu angesiedelte städtische soziale Bewegungen gegen Fahrpreiserhöhungen, für öffentlichen und gegen privatisierten Personennahverkehr. Teils durchaus mit Schlagkraft wie etwa in Florianopolis wurde in den letzten Jahren regelmässig zum Zeitpunkt geplanter Fahrpreiserhöhungen demonstriert. Eine soziale Bewegung, die sich in mehreren Städten formierte, ist das Movimento pelo Passe Livre (MPL = Bewegung fürs kostenlose Ticket). Im Falle des MPL São Paulo etwa ist damit wirklich die Forderung nach freier Fahrt für alle gemeint, sprich die öffentliche Finanzierung des Personennahverkehrs.

Die explosive Mischung, die sich in den Städten durch die schon besprochenen Entwicklungen ergab, führte dann plötzlich und in ihrer Dimension völlig überraschend zu Massenprotesten. Zunächst in mehreren Grossstädten, am Donnerstag, den 20.Juni dann sogar in über 400 Städten brasilienweit und mit mehr als vier Millionen Menschen auf den Strassen. Auf einmal wurde der Widerstand gegen die Transportmafia zu einem Kristallisationspunkt, der überall Tausende auf die Strassen brachte. Hier in Rio war es das Forum gegen die Erhöhung der Fahrpreise, das zu Protesten aufrief. Waren noch im Mai teilweise nur 20 bis 30 Leute bei den Treffen des Forums, kamen nach der grossen Demonstration am 20.Mai dann auf einmal 3.000 Leute zusammen, um die Bewegung um zusätzliche politische Forderungen zu erweitern und nächste Schritte zu diskutieren und zu planen.

Wer ist eigentlich in Brasilien auf die Strasse gegangen (Klassenzusammensetzung der Proteste)?

Das ist eine Frage, die hier viel diskutiert wird und letztlich nicht klar zu beantworten ist. Zunächst einmal hat Brasilien kontinentale Ausmasse und es gab in so vielen Ecken des Landes Proteste. Einerseits in den Zentren mit einer breite Facette an Forderungen, mal gegen die WM mit Demo-Zügen, die versuchten während der Confed-Spiele bis zum Stadion vorzudringen. Aber teilweise auch an Verkehrswegen in eher ländlichen Gebieten, wo Mautstationen kurz und klein geschlagen wurden. Tendenziell waren auf jeden Fall Schüler_innen und Student_innen am zahlreichsten auf den Strassen vertreten und auch Protagonist_innen der meisten Mobilisierungen, unter ihnen wiederum wohl in der Mehrheit Segmente der Mittelschicht.

Ich denke, je grösser die Proteste waren, desto mehr durchmischte sich das Ganze, andererseits gab es auch verschiedene kleine Demonstrationen mit klarem Protagonismus von Favela-Bewohner_innen, wie zum Beispiel bei dem Widerstand gegen das Verschwinden eines Bewohners der Favela Rocinha, der fast sicher von Polizisten der militärischen Pazifizierungseinheit umgebracht wurde. „Wo ist Amarildo?“ wurde zu einem Identifikationsausruf der Proteste weit über Rio hinaus.

Als die Proteste sich hier in Rio stärker in die Vororte ausbreiteten, setzte die Militärpolizei mit der „Chacina da Maré“ jedoch ein eindeutiges Zeichen. In Favelas der Maré wurden in einer Nacht des Terrors im Anschluss an eine Demonstration mindestens zehn Menschen getötet. Ein Hinweis darauf, wie der Staat regieren würde, sollten die unteren Klassen auf die Idee kommen, auch in ihren Vierteln massiv auf die Strassen zu gehen, da ja die meisten Proteste bis dahin räumlich eher aufs Zentrum oder auf Wohnviertel der Mittelschicht begrenzt waren.

Wie sind die Bewegungen in São Paulo und diejenigen in Rio de Janeiro miteinander verbunden?

Insgesamt haben die grossen Metropolitanregionen Brasiliens solche Dimensionen, dass sich aus Sicht des politischen Widerstands ein Grossteil der Aufmerksamkeit auf die eigene Region fokussiert. Intensivere Kontakte zwischen Gruppen und sozialen Bewegungen zwischen den Metropolen aufrecht zu erhalten ist noch einmal eine grössere Herausforderung als es dies in der eigenen Region ohnehin schon ist. Als auf einer der ersten Demos im Juni in Rio Sprechchöre gegen den unter anderem für gewaltsame Räumungen verantwortlichen Bürgermeister São Paulos Haddad (PT) laut wurden, war symbolisch eine Brücke hergestellt, die sich durch viele weitere Formen von solidarischen Protesten und Austausch zwischen den Bewegungen beider Metropolen weiter gestärkt hat. Wie in allen Bereichen denke ich, hat diese Protestbewegung viele Fortschritte gebracht, auch was die Zusammenarbeit und die Kontakte zwischen sozialen Bewegungen in Rio und São Paulo betrifft, wobei dabei vor Allem Austausch und Zusammenarbeit zwischen den Periferien und den sozialen Bewegungen der unteren Klassen eine permanente, nicht einfach realisierbare, Herausforderung bleibt.

Inwiefern hatte der globale Protestzyklus (Ägypten, Türkei etc.) einen Einfluss auf den Ausbruch der Mobilisierungen in Brasilien? Und damit verbunden die Frage nach dem „nationalen“ und „nationalistischen“ Charakter der Bewegungen in Brasilien.

Der Einfluss des globalen Protestzyklus ist nicht zu unterschätzen, vor allem, denke ich, in Bezug auf das Repertoire an möglichen Formen, Wut in Form von Protest auf die Strasse zu tragen. Die mediale Präsenz der letzten Jahre von massenhaften Bewegungen und Riots rund um den Globus hat viele vor allem junge Menschen hier wohl durchaus beeindruckt und sicherlich kam verstärkt der Wunsch auf, auch einmal Protagonist von solchen Prozessen zu sein – umso mehr, je arroganter und wahnwitziger die Stadtpolitik die letzten Jahre gegen den Willen vieler und im Sinne des (Investitions-)Kapitals durchgesetzt wurde. In vielen Sprechchören bezogen sich die Demonstrierenden auf die Proteste anderer Länder: „Unsere Trägheit ist zu Ende, hier wird’s jetzt zu Griechenland!“

Nationalismus war teilweise sehr stark vertreten, ausgedrückt durch die Präsenz von Nationalfahnen und das Singen der Nationalhymne. Es herrscht durchaus Uneinigkeit, wie dies aus linker Sicht einzuschätzen ist. Genoss_innen sprechen von einem „diffusen Nationalismus“, der ein Problem ist, da andere Bezugspunkte und Identifikationsfiguren fehlen und zu einem ernsteren Problem werden kann, wenn er sich vertieft und festigt. Das sehen aber vorwiegend libertäre Kreise so, die sich im Rahmen der Proteste deutlich ausgeweitet haben. Autoritäre linke Strömungen haben ebenso wie breite Segmente der Bevölkerung einen durchaus positiven Bezug zu einem brasilianischen Nationalismus. Aus meiner Sicht ist es ein grosses Problem, dass vor allem viele junge Leute sich im Moment des Protestierens als aller erstes auf „ihre“Nation beziehen, was wiederum Gründe hat, die man versuchen muss zu verstehen. So wurde von den sehr einflussreichen privaten Medien, wie immer allen voran Globo, versucht genau diesen Grün-Gelb-Karnevals-Nationalismus zu forcieren. Den Bericht zu einer Demo mit zehntausend Teilnehmer_innen und vielleicht fünfzig davon mit Nationalfahnen bebilderte Globo damit, wie eine dieser Fahnen von einer isolierten Einzelperson vor den Treppen des Nationaltheaters geschwenkt wurde. Es sollte insgesamt ein Bild erzeugt und die Dynamik dahingehend manipuliert werden, die Proteste seien „für Brasilien und gegen Korruption“ um sie politisch auszuhöhlen. Das gelang den grossen Medien aber weniger als in nicht so bewegten Zeiten üblich. Immer wieder wurden, durch soziale Netzwerke und Onlinepublikationen ermöglicht, Gegenöffentlichkeiten hergestellt und die Strasse selber war letztlich ein Ort, der eben unmittelbar die Menschen zusammen brachte und wo sie auf vielfache und kreative Weise miteinander kommunizierten. Hier waren die privaten Medien nicht nur nicht erwünscht, sondern wurden oft lautstark vertrieben, in einiugen Fällen wurden Ü-Wagen in Brand gesteckt.

Für mich war die Erfahrung des 20. Juni hier im Zentrum Rios sehr prägend und Ausdruck dafür, wie widersprüchlich die Dynamik in Anbetracht von die Versuchen, die Spontaneität auf der Strasse in eine Richtung zu lenken, sein konnte: Zunächst wirkte ein Grossteil der Demo mit wohl fast einer Millionen vorwiegend jungen Leuten fast wie ein Confed-Cup-Fest, wirklich viele waren in grün und gelb gekommen. Als die Militärpolizei vor dem Gebäude der Stadtregierung dann von einer Minute auf die nächste Tränengas- und Gummipatronen auf die Demonstrierenden schoss und eine brutale mehrstündige Hetzjagd durchs Zentrum einleitete, reagierten Massen von Demonstrierenden mit massiver Zerstörung der urbanen Infrastruktur. Binnen kurzer Zeit stand das gesamte Fifa-Fan-Fest-Gelände lichterloh in Flammen, das Zentrum wurde strassenzugweise verwüstet. Die Dimension der Zerstörung und die widerständigen Energien, die an diesem Abend frei gesetzt wurden, sind unabhängig von einer politischen Bewertung, beeindruckend.

Wie reagiert die öffentliche, institutionelle Politik auf diese massiven Bewegungen und Proteste, sowohl in Rio, wie auch in São Paolo?

Die Polizei reagierte unmittelbar mit sehr viel Gewalt, was zunächst zusätzlich mobilisierte und aus Sicht der unteren Klasse und Favelbewohner_innen breiten Segmenten der Gesellschaft deutlich machte, wie sehr im Verhalten der Militärpolizei die Militär-Diktatur, die offiziell 1985 endete, keineswegs überwunden ist. „In der Favela sind die Geschosse nicht aus Gummi“ oder „Die Polizei, die auf der Avenida unterdrückt, ist die gleiche, die in den Favelas tötet“ sind dabei Protestrufe, die dies in Worte fassen. Da bei den ersten Protesten auch JournalistInnen von Gummigeschossen verletzt wurden, schlugen sogar führende konservative, private Medien kurzfristig kritische Töne gegenüber des verhaltens der Polizei an.

Insgesamt wird von öffentlicher Seite von Beginn an versucht, jedwede Form von kollektiver direkter Aktion und Gewalt gegenüber öffentlichen oder privaten Gütern vereinzelten Randalierern in die Schuhe zu schieben, die ordentliche BürgerInnen beim Ausüben ihres demokratischen Rechts friedlich zu demonstrieren stören und rigoros verfolgt werden müssen. Auch Teile der Linken positionieren sich da teilweise unglücklich und tragen damit zu einer Schwächung der politischen Debatte bezüglich der Forderungen, die bei den Protesten laut werden, zu ungunsten einer Debatte, die auf das Für und Wider der Gewalt auf der Strasse reduziert ist, bei.

Wie stehen diese Bewegungen zu den „historischen Bewegungen“ z.B. den landlosen Bauern (MST) und den Gewerkschaften (v.a. in den industriellen Zentren)?

MST und andere schlagkräftige Bewegungen auf dem Land haben seit den 80ern eine ganze Generation sozialer Bewegungen in Lateinamerika mit ihrer Protestkultur geprägt. Hier in der Stadt politisch aktiv zu sein, hiess immer auch respektvoll und durchaus wehmütig aufs Land zu schauen, wo Widerstand konkreter und schlagkräftiger organisiert ist. Mit den jetzigen Protesten kamen in den Städten ganz neue Formen auf, ganz andere Zusammenhänge spielen eine Rolle. Selbst aus Reihen des MST fiel es dabei den eher autoritären Strömungen dieser sehr breiten Bewegung nicht leicht, mit der politischen Unkontrollierbarkeit der Massen umzugehen. Rechte Tendenzen, die durchaus unter Teilen der Protestierenden vorhanden waren, machten sich einige rechtsradikale Schlägertrupps zu Nutze, um linke Fahnenträger zu verprügeln. Ein Autor aus Reihen des MST warnte auf der Internetseite der linke Zeitung „Brasil de Fato“ in einem Kommentar zu den Ereignissen dann gar vor einem Militärputsch, was als Extremfall die Tendenz verdeutlicht, dass die Haltung „Ohne Partei!“, die in den Protesten weit verbreitet war, durch autoritäre Linke sofort als „Gegen Parteien!“ interpretiert und als solche Haltung dämonisiert wurde.

Wie steht es heute um die brasilianische Protestbewegung?

Die grosse brasilienweite Protestwelle ist abgeflaut, aber es blitzt vielerorts und kontinuierlich Widerstand in neuartigen Dimensionen auf, sowohl was die Entwicklung sozialer Bewegungen betrifft als auch spontane Proteste. Gerade jetzt am Wochenende war zu lesen, dass Bewohner_innen einer kleinen Stadt im Süden des Bundesstaates von Rio in einem spontanen Protest gegen willkürliche Polizeikontrollen, die zu einem tödlichen Unfall einer Motorradfahrerin führten, mehrere Polizeiwägen in Flammen aufgehen liessen und ein Polizeigebäude in Trümmer legten. Ähnlich wie bei den gerade fast täglich stattfindenden „Quebra-quebras“, bei denen Fahrgäste die Züge demolieren oder in Brand stecken, in denen sie immer wieder auf halber Strecke liegen bleiben, sind dies aussagekräftige Formen gezielt eingesetzter spontaner direkter Aktion. Ruhe wird so schnell nicht einkehren.

Was soziale Bewegungen betrifft, haben sich Teile radikalisiert, was hier unter dem Schlagwort „Black Bloc“ auch in den Medien viel diskutiert und seitens des Staates zunehmend kriminalisiert wird. Was die Gewerkschaften betrifft, die allgemein regierungsnah und stark bürokratisiert sind, bringen in diesem nachfolgenden, sich breit fächernden Kampfzyklus die ArbeiterInnen, wie gegenwärtig LehrerInnen öffentlicher Schulen in Rio, von unten her Schwung in die grösstenteils kooptierte Gewerkschaftslandschaft. Insgesamt sind aber weite Teile der Linken von einer Haltung geprägt, die Protest und Widerstand soweit gut heisst, wie mit ihm Druck auf die PT-Regierung ausgeübt wird, ohne diese dabei jedoch ins Wanken zu bringen. Da kommt dann direkt die Drohung eines Rechtsrutsches und es wird doch wieder das vermeintlich kleinere Übel verteidigt, wie es auch vor Wahlen der Fall ist: „Gegen die Politik der PT-Regierung ok, aber wählen müssen wir sie bitte trotzdem alle vier Jahre!“

Gibt es einen politischen Ausdruck dieser sozialen Bewegungen, die tatsächlich die Macht der Herrschenden in Frage stellen kann?

Es gab durchaus konkrete Erfolge der Protestbewegungen. Die Fahrpreiserhöhungen wurden in mehreren Städten zurück genommen, wobei davon auszugehen ist, dass gerade direkte Aktionen, bei denen Banken, Regierungsgebäude und öffentliche Infrastruktur attackiert und zerstört wurden dazu beitrugen, den dazu notwendigen Druck aufzubauen. Weitere Erfolge hier in Rio sind etwa die Rücknahme der Pläne, die Favela Vila Autódromo oder das indigene Museum abzureissen, was direkte Forderungen seitens der Protestbewegungen der letzten Jahre waren.

Insgesamt hat sich das politische Klima geändert. An die Seite der Arroganz der Regierenden gesellt sich sicherlich mehr als zuvor die Sorge vor möglichen Reaktionen von unten. Auf allen föderalen Ebenen sind die Beliebtheitsgrade der Regierenden drastisch gesunken. Dennoch sitzt das politische System weiterhin fest im Sattel, es sind bisher keine politischen Köpfe gerollt und Präsidentin Dilma reagierte auf die Proteste mit einer zehnminütigen nationalen Fernsehansprache mit fünf oberflächlich formulierten „Pakten“ und verlässt sich wohl weiterhin darauf, dass bedingungsloses Wirtschaftwachstum im Rahmen des „novo desenvolvimentismo“ und zunehmende Erträge aus Erdölvorkommen ihre Macht weiterhin sichern.

Es ist also noch ein weiter Weg, aber bis zu WM und Olympia ist noch Zeit, sich weiter und breiter zu organisieren. Da wirtschaftliche Entwicklungen und damit verbunden politische Entscheidungen weiterhin Widersprüche erzeugen und soziale Gegensätze verschärfen werden, wird sicher auch weiter Druck von unten erzeugt und spür- und sichtbar werden. Die Situation bleibt weiter spannend.

Von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft aus der «analyse und kritik» 580, Februar 2013 [1]

Während wir dieses schreiben, lässt der griechische Staat Sondereinheiten der Polizei gegen streikende TransportarbeiterInnen aufmarschieren. Die wirtschaftliche Depression befördert eine autoritäre Entwicklung, und es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sich die Situation in Spanien, Portugal und bald auch in Italien ähnlich zuspitzen wird, als dass jener wundersame Aufschwung eintritt, den auch unverdrossene Konjunkturastrologen nicht mehr vorherzusagen wagen. Es sollte eigentlich eine Zeit sein, in der die Linke offensiv auf den Plan tritt. Jahrelang studierte man die blauen Bände, hat sich mit Ware, Wert und Krise abgemüht, und jetzt bestätigt das Kapital jeden Satz, der in Marx‘ »Kapital« über seine unvermeidbaren und unvermeidbar die ProletarierInnen beutelnden Schwächeanfälle zu lesen ist.

Die Tatsache, dass selbst nach offiziellen Angaben die Hälfte der spanischen und griechischen Jugendlichen ohne Arbeit ist und die andere Hälfte kaum über die Runden kommt, gäbe Anlass, über die Abschaffung des Lohnsystems zu reden, ohne als weltfremder Spinner dazustehen. Wo sich in Platzbesetzungen, Plünderungen und dem Widerstand gegen Zwangsräumungen die massenhafte Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum Bruch mit der herrschenden Ordnung bereits gezeigt hat, wäre der Gedanke an das Ende des Staates zumindest nicht völlig abwegig. Wenn die so simple wie radikale Pointe, in die Marx seine Überlegungen münden liess, zutrifft, wenn es also stimmt, dass die proletarisierte Masse der Bevölkerung in den periodischen Krisen gerade deshalb den Knüppel zu spüren bekommt, weil die Produktivkräfte der Gesellschaft zu weit entwickelt sind, dann wäre jetzt die Zeit, über praktische Konsequenzen nachzudenken – über Schritte zu einer Bewegung, die sich diese Produktivkräfte in freier Assoziation aneignet.

Aber die Linke hat mehrheitlich offenbar anderes im Sinn: Sie fantasiert eine bessere Wirtschaftspolitik herbei, die gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen soll: den Lohnabhängigen Gutes tun und die Krise verscheuchen. Was momentan angesichts eines tatsächlich angeschlagenen Kapitalismus vorgebracht wird, ist falsch und politisch verheerend. Das ist nicht unbedingt mangelnder Kenntnis der Marxschen Ökonomiekritik geschuldet, sondern vielmehr der wenig erbaulichen Tatsache, dass eine Aufhebungsbewegung trotz Riots und Platzbesetzungen momentan nicht in Sicht ist, während sich die barbarische Auflösung der krisengeschüttelten Gesellschaften abzeichnet, wie man es in aller Drastik in Griechenland beobachten kann.

Linksradikaler Schwenk zum Keynesianismus

Dass ein langjähriger Linksradikaler wie Karl Heinz Roth plötzlich der Arbeiterautonomie Makroökonomie vorzieht, um für »Programme der Sozial- und Wachstumsförderung« und die »Umsteuerung der sozialökonomischen Gesamtentwicklung« einzutreten, lässt sich vor allem aus der berechtigten Angst vor den sozialen Folgen einer sich weiter verschärfenden Krise erklären, gegen die dann die Hoffnung in Anschlag gebracht wird, Schlimmeres könne sich durch geschickte Umverteilungsmassnahmen abwenden lassen. Derartige Überlegungen bieten jedoch nicht nur der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung das Material zu wirtschaftspolitischen Gedankenspielen für künftige Regierungsbeteiligungen, sondern schüren vor allem Reformillusionen, die niemandem helfen, sondern nur ein Hemmschuh der Subversion sind. Die folgenden Bemerkungen dienen deshalb ausdrücklich dem Ziel, die Spaltung der Linken in EtatistInnen und Antiautoritäre zu befördern.

In den meisten Texten der Linken zur Eurokrise ist jeder Gedanke an Sachzwänge der politischen Ökonomie verschwunden; er gilt als deterministisch. Mit Antonio Gramsci fasst eine Linke, der an »Lösungsvorschlägen« eher gelegen zu sein scheint als an Kritik, das Weltgeschehen nur mehr als eine Frage der »Hegemonie« auf und erklärt ökonomische Sachzwänge zu einer Erfindung des »neoliberalen Diskurses«. Auf dieser Ebene einmal angekommen, spielt das gesellschaftliche Sein denn auch keine Rolle mehr, ein »popularer Schuldendiskurs« (Gruppe Soziale Kämpfe) muss her. 1 Dass das Kapital periodisch in Krisen geraten und sich zulasten der Lohnabhängigen sanieren muss, ist der Rede nicht mehr wert. Stattdessen gilt es, die »Definitionsmacht« (Interventionistische Linke) über die Krise zu erringen. Denn wer die hat, »bekommt auch die politische Lösungskompetenz« (Ingo Stützle, siehe ak 571).

Folgen der linken Gramsci- und Poulantzasbegeisterung

Letztlich geht es also um den Staat – um »Fragen der Staats- und Regierungsmacht«, wie Thomas Seibert freimütig zugibt (siehe ak 548) -, den man mit Nicos Poulantzas zur »materiellen Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« verharmlost und als ein »Kampffeld« begreift, auf dem es mitzumischen gilt. Ein Ausserhalb, das hat man von Poulantzas gelernt, der als KP-Mitglied ein geschworener Feind aller libertären, antistaatlichen Linken war, gibt es nicht. Und so stiefeln die Klassen als schlichte Interessengruppen durch die Weltgeschichte: Sie ringen um Hegemonie, verschieben Diskurse und prägen je nach Lage der daraus resultierenden Kräfteverhältnisse der staatlichen Politik ihren Stempel auf. Momentan haben die bürgerlichen Kräfte das Sagen, das Ergebnis: Neoliberalismus. Deshalb werden die Gläubiger der Krisenstaaten um jeden Preis bedient, zu zahlen hat die dortige Bevölkerung. Aufgrund der »Re-Definition der Krise als Staatschuldenkrise« habe »keine grundsätzliche Veränderung der Wirtschaftspolitik« stattgefunden, konstatieren die einen (Stützle, ak 571), während die anderen zu bedenken geben, dass die Krise durch Austeritätspolitik nicht gelöst, sondern noch verschärft werde, denn die »würgt die (…) gesunkene Nachfrage weiter ab«. Dagegen steht die Hoffnung, der Staat könne »durch kreditfinanzierte Investitionen zukünftigen gesellschaftlichen Reichtum generieren« (Gruppe Soziale Kämpfe, siehe Anmerkung 1).

Auch die Schuldenfrage ist letztlich »eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage« 2, schliesslich zahlen die Reichen und die Unternehmen seit Jahrzehnten immer weniger Steuern. Und weil der neoliberale Austeritätskurs federführend von Deutschland durchgepeitscht wird, müsse man zunächst »die deutsche Dominanz in Europa brechen«. 3

Mythos Neoliberalismus

Der erste, grundlegende Mythos ist der von einem neoliberalen Wirtschaftsregime, das als willkürlich eingeschlagener Kurs zwecks Bereicherung der Reichen verstanden wird, oft verbunden mit einer Nostalgie für die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit. Der soziale Frieden der Nachkriegsjahrzehnte aber, der übrigens auch von den Revolten der 1960er und 1970er Jahre aufgekündigt wurde, verdankte sich einer Boomphase, die kein Wunder und auch nicht die Bestätigung des Keynesianismus war, sondern direkt aus der Kapitalvernichtung durch die Grosse Depression und den Zweiten Weltkrieg resultierte. Keine Hochkonjunktur währt ewig, irgendwann herrscht allgemeine Überproduktion, sinkt die Profitrate.

Seit dem Ende des Nachkriegsbooms ist entgegen aller marktradikalen Rhetorik das wirtschaftliche Gewicht der Staaten kaum geringer geworden: Immer noch fliesst sehr viel Geld durch ihre Hände, sind die Sozialausgaben hoch und gerade in der viel gescholtenen Ära des Neoliberalismus ist die Staatsverschuldung in astronomische Höhen getrieben worden. Wer das nicht zur Kenntnis nehmen mag, lässt sich bis heute von den markigen Worten Maggie Thatchers und Ronald Reagans blenden, die doch schon damals die ideologische Larvenschminke für eine Wirtschaftspolitik waren, die auf Staatsinterventionen ungeheuren Ausmasses – Stichwort Rüstungskeynesianismus – längst nicht mehr verzichten konnte. Mit immer aberwitzigeren Anleihen auf einen zukünftigen Mehrwert wurde der unabwendbare Ausbruch einer Krise aufgeschoben, deren Ursache allein in der nachlassenden Dynamik des Kapitalismus zu suchen ist. Auch die Niedrigzinspolitik in der Dekade vor der jüngsten Krise war keineswegs neoliberal, sondern schlichter »Börsenkeynesianismus« (Robert Brenner): Es wurde munter Geld in die Wirtschaft gepumpt, mit dem Ergebnis einer kurzen Scheinblüte.

Gerade das Krisenmanagement seit 2008 zeigt keine Spur neoliberaler Hegemonie. Als es brenzlig wurde, haben die Regierenden auf die marktradikalen Bekenntnisse gepfiffen, um mit Rettungspaketen, Konjunkturprogrammen und notfalls Verstaatlichungen jenen Entwertungscrash abzuwenden, den momentan selbst eingefleischte Laissez-faire-KapitalistInnen mehr zu fürchten scheinen als die verhassten Staatseingriffe.

Die Angst vor dem Crash

Das ist das zentrale Dilemma der aktuellen Krise: Ein solcher Crash wäre notwendig, um einem neuen Aufschwung den Boden zu bereiten; denn wenn Krisen einen Mangel an Mehrwert gemessen an der Grösse des existierenden Kapitals ausdrücken, kann ihre Überwindung nur in verschärfter Ausbeutung einerseits, Kapitalvernichtung – von Werksschliessungen bis zur Entwertung von Staatsanleihen – andererseits bestehen. Nie hat sich der Kapitalismus anders bewegt als durch einen ständigen Zyklus von Boom und Crash. Die Folgen eines solchen Entwertungscrashs aber wären in einer global engmaschig vernetzten Wirtschaft so unberechenbar – und zweifellos grauenhaft -, dass man sich nicht einmal traut, das Labor Griechenland hochgehen zu lassen: Es hängt einfach zu viel daran, nicht zuletzt der Euro.

Wenn die griechischen Staatsschulden also um jeden Preis bedient werden, dann nicht um die Gläubiger zu schonen – eine Anklage mit der sich Linke in eine surreale Koalition mit den letzten aufrechten Marktradikalen begeben -, sondern um eine unkontrollierbare Kettenreaktion abzuwenden.

Kein Mythos ist, dass es eine »deutsche Dominanz in Europa« gibt: Merkel und Schäuble machen die Kettenhunde für die härtesten Angriffe auf das Proletariat in der Nachkriegsgeschichte. Zweifellos hat die Krise Europa auch entlang nationaler Grenzen in KrisengewinnerInnen und -verliererInnen geteilt. Zu den GewinnerInnen gehören – bislang – die exportstarken Nationalökonomien, allen voran Deutschland, dessen starke Verhandlungsposition sich daraus ergibt, dass es seit der Umsetzung der Agenda 2010 zu unschlagbar niedrigen Lohnstückkosten qualitativ hochwertige Waren produzieren und exportieren kann. Selbstredend ist die deutsche Krisenpolitik nationalen Interessen verpflichtet, sie folgt aber auch der Tendenz des Kapitals, die allgemeine Wettbewerbsfähigkeit durch Entwertung der Ware Arbeitskraft und Schliessung unproduktiver Sektoren zu erhöhen. Die krisenverschärfenden Austeritätsprogramme wurden von Deutschland zwar durchgeboxt, sind allerdings im Interesse aller europäischen Bourgeoisien, solange sie ihren Standort nicht zu zerstören drohen.

Auch ist die deutsche Dominanz keineswegs ungebrochen. Gegen das deutsche Spardiktat steht bspw. eine Europäische Zentralbank, die unbegrenzt Ramschanleihen der Krisenstaaten kauft, die heikle Politik des Schuldenmachens also weitertreibt. Im Ringen um das europäische Krisenmanagement spiegelt sich also letztlich das Dilemma, dass Austerität langfristig zwar unvermeidbar ist, kurzfristig jedoch den Crash heraufbeschwört, während keynesianisches Schuldenmachen kurzfristig zwar beruhigend wirkt, diesen Crash jedoch nicht endlos aufschieben kann.

Mehr als dieses Versprechen aber hat der neue Linkskeynesianismus nicht im Angebot. Der fromme Wunsch, der Staat könne weiterhin »durch kreditfinanzierte Investitionen zukünftigen gesellschaftlichen Reichtum generieren«, ist angesichts der Tatsache, dass die gigantischen Konjunkturprogramme seit Ausbruch der Krise kaum Konjunktur, dafür aber gewaltige Staatsschulden bewirkt haben, illusionär.

Verteilungspolitische Irrwege

Auch das Nachfrageargument, der vermeintliche Trumpf aller LinkskeynesianerInnen, sticht nicht: Alle KapitalistInnen wünschen sich zahlungskräftige Kundschaft. Sie wissen aber auch, dass Lohnerhöhungen in Zeiten der Krise das Letzte sind, was sie brauchen können, drücken höhere Löhne die ohnehin schwächelnde Profitrate doch ganz direkt. Deshalb wurde keine einzige Krise in der Geschichte auf diesem Weg überwunden. Einziges Ergebnis des linkskeynesianischen Versuchs, dem Klassengegner das proletarische Lohninteresse als höheres Gebot volkswirtschaftlicher Vernunft aufzuschwatzen, war und ist die Vernebelung des Bewusstseins.

Bleibt das Finanzamt, zu dem alle Wege des aktuellen Reformismus führen. Steuerpolitik ist nichts weiter als eine sekundäre Verteilung zwischen den Klassen; die Schwäche der Lohnabhängigen kann dauerhaft nicht durch einen starken, umverteilenden Staat wettgemacht werden, denn in den Lohnrunden können sich die Unternehmen jeden Cent zurückholen, den dieser indirekt den ArbeiterInnen zukommen lässt. Auch dienten die Steuerleichterungen der letzten Jahrzehnte für Vermögende und Unternehmen nicht in erster Linie dem Ziel privater Bereicherung, sondern sollten die nachlassenden Investitionen wieder ankurbeln – mit mässigem Erfolg.

Gut möglich, dass die Reichen angesichts akuter Finanznot der Staaten wieder stärker zur Kasse gebeten werden. Springen Linke auf diesen Zug auf, befestigen sie jedoch nur den gerade hierzulande ohnehin beängstigenden Glauben an den Staat und zerbrechen sich ohne Not den Kopf über dessen Kassenlage. Auch lagern die Reichtümer der Reichen nicht in Tresoren, wo man sie konfiszieren und an die Bedürftigen verteilen könnte: Kapitalistischer Reichtum ist prozessierender Reichtum, er muss sich verwerten – deshalb ruht er nicht, sondern wird investiert. Mangels lukrativer Anlagemöglichkeiten in den produktiven Sektoren hat er sich mittlerweile in immer fantastischere Finanzprodukte geflüchtet, was wiederum auf die allgemeine Überakkumulationskrise verweist, die durch keine Umverteilungspolitik zu bereinigen ist.

Wie man es auch dreht und wendet: Eine »soziale Krisenlösung« gibt es nicht und hat es nie gegeben. Das linke Wunschdenken fügt sich zwanglos in das momentane Klima eines besinnungslosen Politizismus, in dem zwar keiner – insbesondere nicht die vermeintlich Herrschenden – genau weiss, was zu tun ist, aber alle etwas tun müssen.

Mit ihren Rezepten verkörpert eine Linke, die mittels »popularem Schuldendiskurs« die »Definitionsmacht« über die Krise zu erringen sucht, das falsche Bewusstsein der Abwehrkämpfe gegen die Austerität. Denn diese Kämpfe werden nicht das Tor zu einem »sozialen Europa« aufstossen, sondern, sollten sie anhalten, die unausweichliche Sanierung der schwer lädierten Ökonomie blockieren. Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst, jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung, die in den linken Reformgespinsten gar nicht mehr gestellt wird.

  • 1. Gruppe Soziale Kämpfe: Krise und Herrschaft durch Schulden. Für einen popularen linken Diskurs, arranca.org/ausgabe/45/krise-und-herrschaft-durch-schulden
  • 2. Ingo Stützle und Stephan Kaufmann in der Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Ist die ganze Welt bald pleite?«, die unter www.rosalux.de [2] heruntergeladen werden kann.
  • 3. Aus »Dazwischengehen. Zeitung für eine Interventionistische Linke«, Mai 2012.

Links:
[1] http://www.akweb.de/ak_s/ak580/11.htm
[2] http://www.rosalux.de

 

Class Struggle in China Beyond the Leftist Grand Narrative
by friends of gongchao (April 2013)

Unsere Veranstaltung zu den sozialen Unruhen in den chinesischen Fabriken hat u.a. auch die Frage der Repräsentanz aufgeworfen. Wird der Staat und das Kapital in China auf die gewerkschaftliche Vertretung zurückgreifen, um die Unruhen einzudämmen und sie gar zu institutionalisieren oder werden die chinesischen ArbeiterInnen ihre unabhängige Organisationsform entwickeln und Staat und Kapital weiterhin unter Druck setzen? Dieser z.Z. nur auf englisch zur Verfügung stehende Text geht auf diese Fragen ein und diskutiert sie aus einer historischen Perspektive. (debatteforum)

1 | introduction

China has seen an increase in social struggles in workplaces and elsewhere in recent years. Restricted by state and capitalist repression, these struggles happened without effective union representation. Facing the specter of the crisis and social unrest, capital and the state reorganized their repressive counter-strategies and introduced forms of mediation to regain control over the process of class re-composition. Meanwhile, labor activists and left-wing academics who support workers‘ struggles in China press for the establishment of ‚independent‘ unions, following the leftist grand narrative of increasing class power through labor representation in the capitalist state. In that way they risk re-legitimizing (reformed) capitalist structures. In order to understand the potential for social struggles and the strategic decisions of those involved, we have to look at the historical dynamics of social change, in particular, the role of (union) representation and the integrating and pacifying forces of capitalism. This paper argues that the autonomous forms of workers‘ organizing in China could use their potential for enforcing profound social change while avoiding the mistakes made by movements elsewhere.

2 | global context 

As a result of the global struggles in the 1960s and 1970s and the economic crisis, capital changed its Keynesian strategy globally and launched a counter attack, e.g. through austerity policies, wage cuts, and the relocation of industries. The latter led to new processes and areas of industrialization, massive rural-urban migration, and proletarianization in some parts of the world, in particular East Asia. In the old capitalist ‚core‘ states, the formerly socialist states in Eastern Europe, as well as some developing countries, old working classes with relatively secure labor contracts and benefits were attacked1 and new working classes with relatively precarious labor conditions formed. Still, neither the attack on the old class composition nor the set-up of new industries and global production chains could ultimately solve the problems of capital. In that sense, the crisis of the late 2000s is an extension of the crisis of the 1970s. Just two years after the outbreak of the global crisis in 2008 we witnessed a wave of uprisings, strikes and other forms of resistance around the globe. All in all there have been more events of unrest than in the late 1960s and early 1970s, the last phase of such global social upheaval.2 In many recent struggles, grassroots activity, self-organization and social anger pushed for more participatory and egalitarian social processes, for instance, in 2011 during the Arab rebellions, the Spanish M15 movement, the Greek uprisings, and the Occupy movement. At the same time, an institutionalized ‚left‘ – often searching for a function and role in the state apparatus – has kept showing its interest and potential to re-legitimize a reformed state and reorganized capitalist structures. This statist reflex adds to the organizational and structural weaknesses of the struggles, and constricts the spaces for building a future in the present: social revolution.

3 | recompostion in china

In China, the crisis of the ’socialist‘ system culminated in the 1970s. The wave of struggles and the subsequent capitalist attack around the globe in the same period led to a formerly unlikely coalition of the Chinese Communist Party (CCP) with global private and state capital. The reforms that started in late 1970s made the country the ‚factory of the world‘ by the late 1990s. The old working class was decomposed through the restructuring and down-sizing of the state industries and the destruction of the ‚iron rice bowl‘, a set of social guarantees for parts of the urban workforce. Meanwhile, industrialization and rural-urban migration led to the establishment of a segmented labor market and the composition of a massive migrant working class of 200 to 300 million, exploited by foreign and Chinese capital and controlled and repressed by the state through strict political and social control measures.

Up until now, the proletarianization process of the migrants has remained somewhat unfinished, because the household registration laws (hukou) do not allow them to settle down in the city. The ‚enclosures‘ through which peasants around the globe have lost their land and have had to migrate and sell their labor power in new capitalist workplaces was not repeated in China in the same way. Rather, for most migrant workers in China the return to the village and ‚their‘ plot of land is blocked by the reality of low incomes in the countryside, unemployment, the lack of opportunities, and the subjective preference for ‚modern‘ city-life.3

4 | new struggles

Industrialization, migration, and proletarianization have changed the social landscape in China. As elsewhere, migration is a process of forced mobility for capitalist purposes (to do waged or unwaged labor where capital needs it), but it also includes elements of autonomous proletarian mobility to escape misery, exploitation, and patriarchy in the areas of origin. In China, it has triggered ongoing field battles across the social relations of genders, generations, and classes who fight for more social freedom and control over their own lives.4 Most social struggles China has seen in the past two decades have centered around labor issues, corruption, land-grabbing, or environmental issues, and they have been led by urban and migrant workers, peasants, and even the ‚middle classes‘. In the late 1990s and early 2000s, the old working class staged large struggles against lay-offs and the deterioration of conditions. However, it could only delay the process, not prevent it. In the same period, peasants fought against corrupt state and party officials, land theft, and high taxation, thereby forcing the state to lower taxation, but many of the problems in the countryside have remained.

The struggles of the new migrant workers demanding improvements increased throughout the 2000s and culminated in 2010.5 These were described as „class struggle without class organization“6 because they are class-based, but organized autonomously, i.e. without any institutionalized labor organizations. The unrest includes illegal forms such as wildcat strikes by industrial workers in medium- or large-scale workplaces, massive riots involving (waged and unwaged) migrant proletarians, demonstrations, sit-ins, and road-blockages, as well as various every-day forms of resistance in the workplace such as go-slows, absenteeism, or sabotage.7 Recently, larger workers‘ struggles clustered in the main new industrial centers along China’s east coast (Pearl River delta, Yangtze delta, and Beijing/Tianjin), but also followed the paths of industrial relocation to new inland zones like Chongqing, Zhengzhou and Chengdu.

5 | changing patterns

With the increase in the number of struggles, their content, patterns, and organizational forms changed. In the first half of the 2000s most of them were about the defense of basic standards or against rights violations, and they were based on kinship forms of social organization. These struggles were usually restricted to one company alone (one village, one neighborhood etc.) and this limitation has been called „cellular activism“.8 In the second half of the 2000s more struggles involved offensive demands for improvements, used social organization beyond kinship, and proved contagious, with copycats, domino-strikes, higher participation, forms of bottom-up democracy and the coordination by a growing number of experienced militant workers and activist networks.9 Workplaces as well as dormitories and migrant workers villages outside factory zones and construction sites became sites of social organizing for these struggles. Skilled workers, foremen and forewomen play an important role in many struggles by using their abilities and their position to organize protests. In certain cases, so-called ‚citizen‘ lawyers and journalists, often (former) migrant workers, acquire legal and other skills through supporting workers in their struggles against companies and help spread information and experiences.10

6 | new generations 

Workers today are more determined, confident and competent to organize protests and strikes. This is connected to the succession of different social generations of migrant workers. The first generation migrated to the urban zones in the 1980s and 1990s, had no experience with industrial labor and urban life, and planned to go back to the village. It only organized isolated incidents of labor unrest. The second generation, migrating in the late 1990s and 2000s, already knew about others‘ experiences in the city. It has not learned to farm, wants to stay in the cities, and is able to use the internet and mobile phones for their social organizing. As in other cases of industrialization and migration around the globe, it was this second generation that started to organize protests and strikes.11 We are now seeing a third generation that does not want to do industrial work anymore but get a white-collar job. They dream of having their own business, being able to buy a car and electronic gadgets, have time for the family and leisure. Few of them make it, and most are left with low-wage work in factories, on construction sites, in shops, restaurants, as domestic helpers or security guards. These experiences lead to disillusion, discontent, and anger. Today, many migrant workers from the second and third generation see social mobilizations, including strikes, as legitimate forms of resistance. The knowledge about organizing protests has been circulating in their proletarian milieus, spread by new groups of worker militants and activists. That does not mean all of them overcome their social fragmentation and engage in collective struggles – but more do than before.

7 | state and capital strategies 

The new struggles represent a threat both to the CCP regime and the global division of labor. The cheap-labor-model as the engine of the Chinese boom and the backbone of global production provided cheap consumer products for other world regions and enabled core states to go ahead with austerity programs and wage cuts. Now that might come to an end. The main strategy of the state and capital against the specter of working class struggles has been a ’spatial fix‘ to escape the struggles, i.e. the relocation of factories to the Chinese hinterland (or countries like Vietnam). This strategy has only been partially successful since there has been an increase in labor struggles in these new industrial centers in past years. The state has also launched a multiple attack on the workers to weaken their struggles through (1) upholding the internal division of workers through migration laws and a gendered division of the labor market; (2) repression by state agencies including the arrest of so-called ringleaders and police attacks on protesters. At the same time, the state tries to defuse social tensions by (3) directly intervening into potentially destabilizing conflicts through various state agencies, namely the local government and its labor bureau, using tactics from intimidation and arrests to promises and cash payments; and by (4) channeling worker grievances through labor legislation and workplace mediation, i.e. ritualized paths for workers‘ complaints and demands that function to individualize conflicts and weaken the subjects behind them.

8 | general union role 

All these forms play a role in containing workers‘ struggles but have not prevented the recent uprisings such as the 2010 strike wave in the auto industry. Faced with more protests, the state wants to establish further safety valves to release social pressure. One focus is on the unions as mediating forces (during and outside of collective bargaining) that can help company managements and the state to control workers‘ discontent. Unions cannot be understood just as a strategy ‚from above‘ nor just as an organization ‚from below‘. Historically, they are based on workers‘ discontent and workers‘ willingness to express it. Unions try to represent the power of workers and use their ability to stop production or refuse work in negotiations in trying to get a good deal: higher wages, job security etc. They function as mediating bodies between capital and the workers – within the capitalist framework and not beyond – and therefore need the willingness of both to comply with reached agreements. To maintain their acceptance by capital, they have to prove their ability to control any unwanted independent workers‘ activity; in order to keep the trust of the workers they have to show their openness to the workers‘ problems and produce some success in the collective bargaining process. However, as long as workers are weak, capital might think representation and unions are not necessary and too expensive; but when they are strong and workers‘ struggles hamper production and threaten social peace, managements often ask for workers‘ representation on the shop-floor or for officially recognized unions.12

9 | defunct unions open space

Independent worker organizations are repressed in China, and the official All-China Federation of Trade Unions (ACFTU) is closely linked to the ruling CCP and opposes labor militancy. Due to their complicity with state and capital, the ACFTU unions are not accepted by workers as their representative bodies, and cannot effectively intervene and mediate during workers‘ struggles. Therefore, workers have a certain space to organize and struggle autonomously. The struggles have led to concessions such as improved working conditions and wages and they have widened the space for social activity against the repressive state to an extent where the CCP sees it as a ‚threat to social stability‘ (meaning its own rule).

To undermine the autonomous forms of worker organizing, the CCP needs effective state-controlled union structures, so it started to allow slight reforms of the ACFTU like experiments with collective bargaining and more worker participation at the company union level – as was the case in both of the most prominent struggles of the past few years: in 2010 after the strike at the Honda plant in Foshan, and in 2013 after a range of struggles in various factories at Foxconn plants.

However, the state faces a dilemma because there is a possibility that a more tolerant government stance towards any kind of worker organizing will encourage more collective protests and lead to more coordination and more demands for political change, and it might be difficult for the government to stop such a process. Therefore, it is doubtful for the time being whether the state will go as far as to legalize (union-led) strikes.

10 | the leftist grand narrative

The strategies against workers‘ struggles are designed by state agencies and capital, but when it comes to the integration and challenging of struggles they often rely on the collaboration of ‚left-wing‘ forces from within and outside the working class.

In China, some labor activists, NGO-officials, and academics advocate (1) the establishment of ‚independent‘ unions, or (2) the reform of the ACFTU so it can fulfill the function as a workers‘ representation body.13 Ironically, both proposals are promoted by otherwise opposite forces: groups who want to pacify the struggles, some even in the name of the CCP’s ‚harmonious society‘, and groups who want to escalate the struggles – but misinterpret the unions as organizations that strengthen workers‘ power.

Why does the latter group make that mistake? In the past 150 years, capitalism as a social relation has proved very flexible in adapting to and integrating social conflicts, thereby stabilizing the system and preventing fundamental change. It has frequently managed to integrate leftist forces who tied working class mobilizations to bourgeois forms of governance and the capitalist ideology of progress and modernity. These forces often follow the leftist grand narrative that proclaims the necessity of bourgeois revolution preceding proletarian revolution, the establishment of ‚class organizations‘ as unions (for the ‚economic struggle‘) and workers‘ parties (for the ‚political struggle‘), the taking over of state power, and the establishment of a ‚workers‘ state‘ in a transitional phase.

This narrative was based on a particular class composition especially in Germany in the late 19th and early 20th century, which shaped both main leftist doctrines, Social Democracy and Marxism-Leninism (as different as they otherwise might be). In essence, it served as an ideology of capitalist development through (Taylorist) industrialization, proletarianization, and more or less ‚democratic‘ or authoritarian rule.14 Today, after the demise of 20th century socialism based on a bureaucratic class system and political repression as well as the social-democratic participation in western-democratic capitalist rule, both may seem obsolete as useful political frameworks of social change, but they are very much alive as political strategies among today’s leftists and their lobby groups.

In China, the leftist grand narrative or variations of it are promoted not just by the ‚left‘ minority within the CCP that wants a revitalization of the Maoist workers‘ state, but also parts of the oppositional ‚left‘ that supports workers‘ mobilizations and strikes, i.e. certain labor NGOs, (neo) Maoist groups, left-wing academics etc.

11 | practical critique in struggles

Many rebellions and movements since the 1960s have expressed a practical critique of the leftist grand narrative, of ‚really existing socialism‘ and Social Democracy. They have promoted self-organized forms of collectivity and self-empowerment against the incapacitation by unions or party officials and have supported egalitarian initiatives against the separation of the workers along the lines of gender, ‚race‘, or skill. Furthermore, they have rejected the fixation on state power as well as ‚leftist‘ nationalism and have favored a global perspective of social change.

These are vivid elements of many struggles, most recently during the movements of assemblies in city squares in Spain and Greece as well as the Occupy movement. However, these elements have not prevented the renewed recuperation of struggles and the stabilization of this exploitative system. For instance, despite massive working class mobilizations, the uprisings in Greece were repeatedly channeled into formal organizations and ‚democratic‘ elections.

Activists played a role in these failures by promoting reformist tactics and upholding the fetishism of big formal organizations of representation, despite the fact that there is no historical evidence to support the idea that formal labor organizations are a precondition for effective labor resistance. Unions or workers‘ parties were usually established after periods of militancy. They embody the channeling of conflicts into organizations, which often leads to a loss of practical solidarity, not its‘ strengthening. Conflicts are separated from those immediately affected and involved, are taken away from the workplaces and off the streets, and ’solved‘ on negotiation tables and through ballot boxes.15

However, a critique of the repression or channeling of struggles through capitalist ‚fixes‘ or their weakening by leftist strategies is not sufficient. Struggles would not necessarily lead to revolution if there was no ‚leftist‘ intervention. State repression and state strategies to fragment and channel movements are having an effect, and, surely, internal weaknesses of movements play a role, namely the contradiction of the within/beyond-problem: fighting for improvements of social conditions within the capitalist framework, i.e. using unions and collective bargaining or similar forms for negotiating with the class enemy vs. fighting for the abolition of capitalism that continuously changes and re-produces the conditions for exploitation and repression. As long as capitalism exists, elements of both will play a role in the struggles. Whether these lead to a revolutionary situation depends largely on the power of the rebellious subjects and their understanding of this power.

Therefore, any suitable form of workers‘ organizing hinges on the ability of workers to organize in a way that lets them empower themselves against capital, develop a perspective beyond capitalist exploitation, and resist forms of mediation and reintegration into capitalist development.

12 | workers‘ power

When analyzing the chances for fundamental social change in China we need an assessment of the workplace and the organizational power16 of different proletarian groups and an inquiry into the dispositions and actions of workers in concrete struggles that constitute the basis for the re-composition of a working class movement. This can only be sketched here:

The workplace power (the ability to fight for one’s interest in the workplace through stoppages etc.) of sections of the working class in China has increased with the development of industrial clusters, the integration of Chinese workplaces in the global production chain, and the reorganization of work and just-in-time production. The strike wave in 2010 was largely concentrated in enterprises with these specific conditions. Other sections have far less workplace power due to individualization, repression and control, e.g. domestic workers. This reflects the fragmented technical composition of the working class in China and the various production regimes brought into place to separate workers, and which is currently an important obstruction for a generalization of working class struggles. The organizational power has increased in so far as many workers have learned how to organize resistance and struggles (see above), but is still limited due to government repression and weakened by government tactics of mediation.

13 | inquiries for change

Inquiries into the dispositions and actions of workers in concrete struggles can show the political re-composition of a working class movement but they need to go beyond the mere analysis of the political, economic and ideological warfare the state and capital wage on the working classes and the reaction of the workers against it.

Migrant workers‘ struggles in particular still have a somewhat temporary character in China because of the fluidity of employment and the mobility of the workers‘ themselves. There are also few struggles uniting urban workers, migrant workers, peasants and students. The growing number of protests has undermined the legitimacy of the CCP state, but many workers still see the central state as the only institution that can enforce improved living or working conditions when capitalists break the law and treat them badly. The social movements have neither managed to bring together a large proportion of proletarian subjects to successfully and irreversibly undermine the exploitative and repressive structures, nor were they able to produce an open discourse about working class power and perspectives beyond capitalism.

However, we see an empowerment of workers in China through the struggles and the development of class-based interests, aspirations, and actions. This development has a direction (more struggles, more coordination, more power), but the future is, of course, uncertain. The struggles could (1) signify a temporary change of the balance of power within the class struggle that will reverse in times of crisis and renewed repression, (2) be a sign of rising working class power within a perpetuated capitalist framework and an ongoing reformist adaption of the political structures, and (3) be the harbingers for a social revolution that might already be going on and brush away the exploitative capitalist structures in China (and elsewhere).

14 | concluding questions

Facing the crises of capitalism and the possibilities for social change globally, what kind of impulses will come from China? After its long term economic boom, massive social changes, the ‚delayed‘ economic crisis and the continuation of authoritarian rule by the CCP and its ‚harmonious society‘, China might become a new capitalist core and hegemonic power. The struggles of the new working class have disrupted capital accumulation and made China the epicenter of global labor unrest, but so far capital and state have successfully managed the pressure and continued their policies of fragmentation, repression and diversion. The economic and political system is still functioning, the ruling powers are still in their seats.

Capital and the state have successfully isolated and destroyed the old working class, and the question now is whether the new migrant working class will be able to further expand the spaces of struggle and enforce not just economic but political change. Migration and struggles have led to increasing wages and improved living conditions, but the overall development has produced a growing income gap, the deepening of a rural-urban friction, the continuing discrimination of migrants, poverty, and processes of commodification (e.g. of education and health care) with the result of more suffering and hardships.

Capitalist crisis and proletarian struggles as interconnected processes can lead to the de-legitimization of the crisis-ridden capitalist order as well as the state and the instability of the current capitalist system – in China and around the globe. The effects of crisis and struggles can cause people to question capitalist, racist and gendered power relations and look for new forms of sociality. Whether China and its workers‘ struggles can serve as a laboratory of such social change beyond the traps of social partnership depends (1) on the spaces for social mobilization created during the clash between state/capital and the working classes, (2) on the success of the leftist political factions that try to push for representation and institutionalization of social struggles and (3) on the dynamics of capitalist crisis and social struggles worldwide.

We need a discussion on the weaknesses of mediating class organizations and their role in stabilizing capitalist relations of exploitation. The limits of the ‚class struggle without class organization‘ – i.e. the current social struggles and their organizational forms in China – are obvious, but the absence or disfunction of ‚left-wing‘ institutional representations in China has the advantage of giving more space for social attempts of self-empowerment, which have regularly been suffocated in similar historical contexts by leftist mediators. In other words, the consolidation of workers‘ power, including the defense and expansion of already won terrain, is, indeed, only possible through effective forms of workers‘ organizing. However, avoiding the dead-end street of the leftist narrative gives more way for forms of organizing beyond the fetish of representation.

Footnotes

1 Of course, all these states have had old working classes without secure labor contracts, too, especially consisting of women and migrants.

2 According to Alain Bertho in the documentary film „Les Raisons de la Colère“, Arte, France, 2010: http://www.youtube.com/watch?v=_QpIqcfsDlQ, there were more uprisings in 2009 (540) than 1968. For 2010 he counted 1250 uprisings: http://www.regards.fr/societe/alain-bertho-les-mobilisations,5008

3 For a more detailed account see: Pun Ngai, Lu Huilin (2010): Unfinished Proletarianization: Self, Anger, and Class Action among the Second Generation of Peasant-Workers in Present-Day China. Modern China, September 2010 36: 493-519.

4 This includes struggles about the ideological foundations of the Chinese society, e.g. the Confucian patriarchal regime.

5 Recent examples in: Au Loongyu/Bai Ruixue (2012): New Signs of Hope. Resistance in China Today. China Labour Net http://worldlabour.org/eng/node/515 See also: Butollo, Florian/Tobias ten Brink (2012): Challenging the Automization of Discontent, Critical Asian Studies, 44:3, 419-440 http://dx.doi.org/10.1080/14672715.2012.711978 and China Labour Bulletin (2012): A Decade of Change. The Workers‘ Movement in China 2000-2010 http://www.clb.org.hk/en/node/110030.

6 Chan, Chris King-Chi (2010): The Challenge of Labour in China. Strikes and the changing labour regime in global factories. London/New York.

7 For the parallel occurrence of strikes and riots by different worker subjects throughout capitalist history see Mason, Paul (2007). Live Working or Die Fighting: How the Working Class Went Global. London. For examples of massive riots in 2011 in China see the descriptions on Guxiang (Chaozhou) and Zengcheng (Guangzhou) in Buttolo/ten Brink (see above).

8 See Lee, Ching Kwan (2007): Against the Law. Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt. Berkeley.

9 Elements of this could, for instance, be seen in the strike-wave in the car industry in the summer of 2010 and the various taxi driver strike actions since 2008. This describes a tendency and does not count for all struggles in all regions. For a similar assessment see Friedman, Eli (2012): China in Revolt. Jacobin, Double Issue 7/8, http://jacobinmag.com/2012/08/china-in-revolt, and Buttolo/ten Brink, China Labour Bulletin, and Au/Bai (see above).

10 See for instance Wang Kan (2011): Collective Awakening and Action of Chinese Workers: The 2010 Auto Workers‘ Strike and its Effects. Sozial.Geschichte Online 6, S. 9–27, http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-29001/03_WangKan_Strike.pdf

11 See Silver, Beverly (2003): Forces of Labor. Workers‘ Movements and Globalization since 1870. Cambridge.

12 This pattern can frequently be seen in China, where managements often „ask“ striking workers to elect representatives for negotiations – also hoping that the representatives can be bribed, threatened, and dismissed after the conflict is solved.

13 One prominent advocate of the latter is the China Labour Bulletin (http://www.clb.org.hk/en/), otherwise a source of information on the conditions of exploitation and workers‘ struggles.

14 A detailed critique of the leftist grand narrative has to include a thorough analysis of the artificial dichotomies used in this ideology – society/state, economic struggle/political struggle, unions/parties –, its attempts to cure capitalist errors and irrationalities through a planned economy of capital accumulation, and a critique of the distorted picture of a powerful capitalist class exploiting the workers on one hand and the state/parties/unions as necessary institutions to defend workers‘ „rights“ on the other – neglecting or ignoring the essence of the working-class as part of the capital relation and its power to destroy this relation.

15 See Piven, Francis F./Richard Cloward (1977): Poor People’s Movements – Why They Succeed, How They Fail. New York

16 See Silver (see above). Silver’s third form of power, marketplace power (the ability to sell the own labor power on the market for a good price), plays a less important role for the development of power as a class. In China, it has increased with the labor shortage in the industrial zones and the new job offers following the relocation of industries to inland locations, but it is still fairly low in underdeveloped areas and for unskilled workers in low-wage consumer industries. The separation of the labor market through the hukou-laws and -discrimination is still undermining the marketplace power of many workers.