Am 5. Dezember ist Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren gestorben. Als Hoffnungsträger für die Befreiung der schwarzen Bevölkerung Südafrikas wird er auch nach seinem Tod eine wesentliche Rolle spielen. Doch diese Befreiung ist zwanzig Jahre nach der Machtergreifung der ehemaligen Anti-Apartheidsbewegung African National Congress (ANC) noch lange nicht erreicht.

In diesen Tagen war viel zu lesen über Verdienste und das Scheitern von Nelson Mandela. Oft hatten die vorgestellten Betrachtungsweisen einen moralischen Beigeschmack: Von einer «herausragenden Persönlichkeit mit Werten wie Gerechtigkeit, Frieden, Respekt, Toleranz und Menschlichkeit» sprach Bundesrat Ueli Maurer. (Wollte er mit diesen Worten die gemeinsamen Interessen und Machenschaften zwischen dem helvetischen Kapital und dem Apartheidregime vertuschen?) Ein «Kommunist im besten Sinn» wird Mandela von Jean Ziegler genannt. An den «Friedensnobelpreisträger» erinnert der «Tages-Anzeiger».

Aus der Sicht des historischen Materialismus geht es jedoch nicht darum, das Leben einer einzelnen Person mit einer politischen Moral zu konfrontieren. Es geht vielmehr darum, ihre Ideen und Handlungen aus dem historischen Kontext heraus zu verstehen und ihre Folgen für die heutige Situation der Ausgebeuteten nachzuvollziehen. Nur so kann tatsächlich verstanden werden, wer die politische Person Nelson Mandela war.

Im Kontext der Apartheid

Der Befreiungskampf der schwarzen Bevölkerung Südafrikas war in einen spezifischen historischen Kontext eingeschrieben, der Apartheid, der wesentlichen Bedingung für den Aufstieg des südafrikanischen Kapitalismus ab dem Jahr 1948. Die Apartheid war nicht einfach ein ökonomisches Ausbeutungssystem. Sie war ein System, welches den systematischen Zwang benötigte, um sein Überleben zu garantieren. Die Unterdrückung der Schwarzen bildete sein wesentliches Element. Der Staat belieferte die Industrie mit billigen schwarzen Arbeitskräften und begünstigte die nationale Produktion durch ein Ensemble von finanziellen Zuschüssen und Importrestriktionen. Zwischen 1948 und 1960 wuchs das BIP um 67 Prozent. Südafrika wurde zu einem Paradies für InvestorInnen – so auch für schweizerische Unternehmen. Vermittelt über die Arbeitsgruppe Südliches Afrika (ASA), die 1982 unter anderem von Christoph Blocher mitbegründet und von Ulrich Schlüer geführt wurde, gelangten sie in das Land. Hohe Rentabilität und Profite, eine rasche Mechanisierung der Industrie und eine rasche Proletarisierung der südafrikanischen ArbeiterInnen brachten das Land im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern in den internationalen Statistiken auf die Ränge der westlich-kapitalistischen Staaten.

Die Apartheid konnte zwar Superprofite generieren, aber sie konnte nicht verhindern, dass die schwarzen Massen revoltierten. Die konstante Drohung des Widerstandes der Schwarzen brachte somit einen massiven Repressionsapparat hervor. Es war in diesem sozio-ökonomischen Kontext, in dem Mandela und andere agierten.

Afrikanischer Nationalismus

Die Politik der ANC, massgeblich beeinflusst von der Person Nelson Mandela, orientierte sich stark an den nationalen Grenzen Südafrikas. Mehrere Aussagen von Mandela selbst weisen darauf hin, dass der ANC in keinem Moment seiner Geschichte Befürworter eines revolutionären Wandels der ökonomischen Struktur des Landes war oder die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Ganzes verurteilte. Der afrikanische Nationalismus der ANC war aber unvereinbar mit dem Nationalismus der Afrikaaner (weisse Minderheit). Das Apartheidsystem war zu abhängig von der Überausbeutung der Schwarzen und von der Institutionalisierung der «weissen Überlegenheit» in jedem Bereich des öffentlichen und privaten Lebens.

Dies hatte desaströse Folgen für die aufstrebende schwarze Mittelschicht: Die von Mandela und der ANC erarbeiteten Forderungen nach gleicher ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Partizipation, welche in der Realität also ziemlich moderat und pragmatisch blieben, stiessen bei den Herrschenden nicht auf Gehör. Und somit wandelte sich die gebildete schwarze Elite unausweichlich zur Stimme der gesamten schwarzen Mehrheit und ihre moderaten Konzeptionen zugunsten eines «gerechten Kapitalismus» zur Speerspitze der Politik des schwarzen Nationalismus. Die Unnachgiebigkeit des Apartheidregimes auch gegenüber den moderaten NationalistInnen drängte Mandela und den ANC zur Suche nach radikaleren Alternativen und schliesslich zur Allianz mit der Kommunistischen Partei Südafrikas (KPSA). Der ANC revidierte seine grundlegenden pro-kapitalistischen Positionen jedoch nie. In den 1960er Jahren, als sich der Widerstand gegen die Apartheidpolitik intensivierte, wurde der ANC als illegal deklariert und die AnführerInnen der schwarzen NationalistInnen, unter anderen Mandela 1963, verhaftet.

Der ANC benutzte die stalinistische KPSA, um sich mit den schwarzen Massen zu verbinden und um seine moderaten Positionen mit Radikalität zu tarnen. Sobald er dann jedoch im Spiel der Herrschenden mitspielen durfte, wies der ANC diese Verbindungen zurück und kehrte offen zu seinen reformistischen und marktorientierten Wurzeln zurück.

Südafrika heute

Nelson Mandela wurde nach 27-jähriger Haft 1990 aus dem Gefängnis entlassen und vier Jahre später zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Durch seine politischen Aktivitäten hat er mit Sicherheit den moralischen Rahmen der «weissen Überlegenheit» und die «natürliche Ordnung» der Apartheid herausgefordert. Er war die Personifizierung des Leidens, das die schwarze Mehrheit in einem von einer weissen Minderheit regierten Land zu erdulden hatte. Mandela gab der schwarzen Bevölkerung Südafrikas Würde und Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Doch trotz Erlangung der bürgerlichen Rechte durch die Schwarzen bleibt die Situation in Südafrika prekär. Das Pro-Kopf-Einkommen der Schwarzen liegt heute noch sechs Mal tiefer als das der Weissen, die Korruption innerhalb des regierenden ANC ist ausufernd und die weisse Minderheit besitzt die Mehrheit des Reichtums des Landes und verbarrikadiert sich in den Gated Communities der urbanen Zentren. Am 16. August 2012 schossen schwarze Polizisten, die Befehle von schwarzen Offizieren ausführten, die wiederum unter einem schwarzen Präsidenten agierten, auf Protestierende aus Marikana und töteten 34 schwarze Minenarbeiter, um die Interessen des grossen britischen Minenunternehmens Lonmin zu verteidigen. Das Erbe der langjährigen Politik der ANC lastet noch heute schwer auf dem schwarzen Subproletariat Südafrikas.

Am 9. Februar 2014 steht die nächste Abstimmung bevor. Kernelement der politischen Debatten und Propaganda wird die sogenannte „Masseneinwanderungsinitiative“ der SVP sein. Sie zielt auf eine vermehrt politische Steuerung der Migration. Doch die SVP strebt mit ihren Vorstössen eine allgemeine Restrukturierung des Arbeitsmarktes an.

„Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.“ Absatz 1 der von der SVP eingereichten Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ resümiert die Bestrebungen der Partei im Bereich von (Arbeits-)Migration und Asyl. Damit will die SVP die jährliche Zahl für erwerbstätige AusländerInnen, GrenzgängerInnen inklusive, und Asylsuchende kontingentieren, sprich politisch regulieren und nicht mehr den Marktmechanismen überlassen. Dies widerspricht dem Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU). Der Bundesrat hat daher auch nicht gezögert, die Kampagne gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP zu lancieren und die Personenfreizügigkeit zu verteidigen.

Dauerthema (Arbeits-)Migration

Blicken wir auf die letzten fünfzig Jahre zurück (1964-2013), dann entschied die stimmberechtigte Bevölkerung in der Schweiz über dreissig, (!) Initiativen und Referenden zum Thema Asyl und Migration. Hinzu kamen zudem noch kantonale Abstimmungsvorlagen. Seit fünfzig Jahren wird daher in der Schweiz mit dem Thema „AusländerInnen“ Stimmung gemacht. Am letzten Abstimmungswochenende entschied beispielsweise die Stimmbevölkerung des Kantons Bern, Einbürgerungen restriktiver zu regeln: SozialhilfebezügerInnen und „Kriminelle“ haben kein Recht auf Einbürgerung mehr. Im 2014 werden zudem schweizweit zwei weitere wichtige Abstimmungen bevorstehen: Einerseits die „ecopop-Initiative“, andererseits die Ausweitung des Freizügigkeitsabkommens auf das neue EU-Mitglied Kroatien.

Gerade letztere Abstimmung steht inhaltlich in engem Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative. Denn einerseits werden mit der Ausdehnung der Freizügigkeit auf ein neues Land – ähnlich wie mit Bulgarien und Rumänien – politisch die Ängste um Arbeit, Wohnung und Sicherheit geschürt. Andererseits stellt Kroatien symbolisch und geographisch Länder mit einem wichtigen Anteil oder gar einer Mehrheit an MuslimInnen dar, die europäischen anti-islamischen RassistInnen in Aufruhr versetzt und somit für islamophobe Kampagnen instrumentalisiert wird. Mit Konzepten wie Missbrauch, Devianz und Kriminalität wird eine Massenstigmatisierung produziert, die in eine Angstpolitik umgemünzt wird. Auf diese Angstpolitik baut die SVP wiederum auf, um ein „Heimat-Kollektiv“ zu konstruieren, welches den falschen Antagonismus zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen zuungunsten des Antagonismus zwischen ArbeiterInnen und Kapital stärkt.

Frauenfeindlichkeit

Die xenophobe und rassistische Politik der SVP ist stets begleitet von anti-feministischen Elementen. Anhand von drei Beispielen politischer Vorstösse wird diese Haltung deutlich.

Erstens handelt es sich um die in der Abstimmung vom 24. November 2013 mit 58,5 Prozent zwar verworfenen, jedoch darum nicht unbedeutenden „Familieninitiative“. Diese hätte vorgesehen, dass Eltern, die ihre Kinder selber betreuen, für die Kinderbetreuung mindestens ein gleich hoher Steuerabzug gewährt würde wie Eltern, die ihre Kinder extern (zum Beispiel in einer Krippe) betreuen lassen. Statistisch betrachtet sind es in erster Linie Eltern aus den oberen Schichten, die ihre Kinder zu Hause betreuen. Eltern aus migrantischen und proletarischen Haushalten können heute kaum noch mit einem „Alleinernährerlohn“ leben, Frauen gehen meist einer (prekären) Teilzeitarbeit nach. Von der Initiative hätten in erster Linie wohlhabende Familien profitieren können.

Zweitens fordert der SVP-Nationalrat Sebastian Frehner (Basel), dass geschiedene Frauen für sich selbst sorgen und die Ex-Männer von den Unterhaltspflichten entlastet werden sollen. Damit strebt die SVP eine Harmonisierung der Alimentenregelung und die gleiche Regelung wie bei der Sozialhilfe an: Geschiedene Frauen sollen wieder arbeiten, sobald das jüngste Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat. Heute wird geschiedenen Müttern Teilzeitarbeit zugemutet, wenn das jüngste Kind zehnjährig ist, und Vollzeitarbeit, wenn das Kind 16 Jahre alt ist. Ein Drittel der alleinerziehenden Frauen ist sozialhilfeabhängig. Bei Männern liegt die Zahl bei 5 Prozent.

Drittens gehört zur sozialpolitischen Priorität der SVP die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Zum Projekt „Altersvorsorge 2020“, das von Bundesrat Alain Berset jüngst in die Vernehmlassung geschickt wurde, schreibt die SVP: „Die SVP fordert eine zeitliche Priorisierung der zentralen strukturellen Massnahmen. Dazu gehört insbesondere eine rasche Angleichung des Rentenalters von Mann und Frau bei 65 Jahren.“ Durch die Erhöhung des Rentenalters für Frauen wird die gesellschaftliche Situation von Frauen ab 50 Jahren völlig ausgeblendet (hohe Erwerbslosigkeit und Schwierigkeiten, wieder in den Arbeitsmarkt zu gelangen, um nur zwei Tatsachen zu nennen) und somit eine spezifische Gruppe an ausbeutbaren Arbeitskräften weiterhin in einem Arbeitsmarkt gehalten, der strukturell nie alle Arbeitskräfte aufnehmen kann.

Klassenpolitik

Die Kombination der migrations- und frauen- bzw. familienpolitischen Reformbestrebungen der SVP ist nicht zufällig, sondern entsprechen klaren Klasseninteressen. Das angestrebte Ziel ist, die Beschäftigung derjenigen Teile der schweizerischen Proletarisierten zu erhöhen, der zurzeit eine eher tiefere Beschäftigungsquote aufweisen (Frauen) und gleichzeitig die ausländische Bevölkerung zu beschränken. Längerfristig wird so eine „Auswechslung“ ausländischer durch weiblicher Arbeitskräfte angestrebt, welche wiederum allgemein die Erwerbslosigkeit reduzieren soll. Dadurch wird einerseits die Prekarisierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt vorangetrieben, andererseits die aufgrund von Erwerbslosigkeit produzierten sozialen „Kosten“ reduziert, welche KapitalistInnen heute noch über die Institutionen des Sozialstaates bezahlen.

Die SVP bringt also sexistische, xenophobe und welfaristische (Geringschätzung jener ArbeiterInnen, die sozialstaatliche Leistungen beziehen) Elemente zusammen, die so Programm machen. Angesichts der bevorstehenden politischen Abstimmungen und der sozio-ökonomischen Entwicklungen ist es höchste Zeit, sich dieser Angstpolitik zu widersetzen – an den Arbeitsplätzen, in den Schulen, in den Wohnquartieren und auf der Strasse.

Die Krise in Europa ist bei weitem nicht zu Ende. Die Schweiz als ökonomisch stark an die EU gebundenes Land bleibt von den Folgen der Krise nicht verschont. In der Linken werden breit Krisenanalysen und politische Strategien zum Ausgang aus der Krise formuliert. Doch kaum jemand wagt sich an die Frage, wie die herrschende Produktionsweise aufgehoben werden könnte.

Anfang August trafen sich die JungsozialistInnen der Schweiz (Juso) im Wallis zum jährlichen Sommerlager. Im Zentrum des Ausbildungscamps stand die „1:12“-Initiative, mit der die Juso wieder Fragen um (Um-)Verteilung und „soziale Gerechtigkeit“ aufs politische Tapet bringen will. Mit der von Gewerkschaften und SozialdemokratInnen lancierten Mindestlohninitiative gehört die „1:12“-Initiative sinnbildlich zu einer linken Krisenpolitik, welche mit Hilfe des Staates die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen verbessern solle. Die Bourgeoisie nimmt diese Bestrebungen ernst. Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) betreibt seit Monaten eine Kampagne gegen die sozialdemokratischen Anliegen, Tag um Tag werden Studien und Kommentare publiziert, welche die negativen Folgen einer staatlich regulierten Lohnpolitik (Arbeitsplatzvernichtung, Abgang von Topmanagern, Steuerausfälle etc.) aufzeigen sollen.

In der linken Krisenpolitik geht es jedoch nicht mehr um Klassenkampf, sondern fast ausschliesslich nur noch um Abstimmungskampf. Für einen Abstimmungserfolg wird auch nicht zurückgeschreckt, die Waffen der Gegner anzuwenden. Praktische Politik heisst heute in der Linken in erster Linie Rhetorik- und Medientraining. Diese politischen Strategien basieren auf der Überzeugung, die vom Kapitalismus produzierten Institutionen können durch genügend politischen Druck und durch ihre Umgestaltung für das Wohl aller (siehe den SP-Slogan „Für alle statt für wenige“) benutzt und die Krise verscheucht werden.

Linke Reformillusionen

Dass es bei den Vorschlägen einer „Umsteuerung der sozioökonomischen Entwicklung“ auch um die berechtigte Angst vor den sozialen Folgen der globalen Krise geht, daran besteht kein Zweifel. Doch verschwindet aus diesen Überlegungen der Gedanke an die Sachzwänge der politischen Ökonomie vollständig. Es liegt aber in der Natur des kapitalistischen Gesellschaftssystems, dass Hochkonjunkturen irgendwann zur allgemeinen Überproduktion mutieren und die Profitrate sinkt. Das Kapital kann seine Akkumulation längerfristig nur über die vorübergehende Zerstörung von Arbeit und Kapital selbst retten. Dieser Prozess ist durch keine gut gemeinte Umverteilungspolitik zu „bereinigen“.

Dadurch wird auch der Staat als „Kampffeld“ verstanden, auf dem es mitzumischen gilt. Die Krisen-Lösungsvorschläge beschränken sich denn auch auf eine „bessere“ Wirtschaftspolitik oder auf künftige Regierungsbeteiligungen (siehe zum Beispiel Syriza in Griechenland). Solche Reformillusionen helfen niemandem wirklich. Vielmehr werden dadurch mögliche Klassenkämpfe in institutionelle Bahnen gelenkt und „befriedigt“.

Mythos Neoliberalismus

Damit einher geht die Kritik am „Neoliberalismus“, der als Rückzug des Staates aus der ökonomischen Sphäre zwecks Bereicherung der Reichen verstanden wird, und der Verweis auf die besseren Zeiten der „sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit“. Die „goldenen“ Jahre des Kapitalismus (1950-1980) basierten jedoch gerade auf der Vernichtung von Kapital während des Zweiten Weltkrieges und auf einem nachfragestützenden Sozialstaat. Der Sozialstaat stellt also kein Gegenstück zum Kapitalismus dar, sondern seine ergänzende Institution. Die wirkliche Natur des Sozialstaates kam dann zum Vorschein, als der Kapitalismus in den 1980er Jahren wieder in eine Krise stürzte und auch der Sozialstaat daran nichts ändern konnte. Keine einzige Krise in der Geschichte wurde über den sozialstaatlichen Weg überwunden.

Auch das Krisenmanagement seit 2008 zeigt keine Spur neoliberaler Hegemonie. Die Regierenden haben stets auf die staatlichen Institutionen zurückgegriffen, wenn es zu brenzlig wurde (Rettungspakete, Konjunkturprogramme). Auch die radikalsten Staatskritiker-KapitalistInnen fürchten einen Crash mehr als die staatliche Rettung der bestehenden Ordnung.

Wann wenn nicht jetzt?

In ganz Europa – und auch in der Schweiz – herrscht bei den Linken das Gefühl, jetzt sei der Moment gekommen, um eine wirkliche „linke Wirtschaftspolitik“ zu propagieren, um die fragile Situation der Herrschenden auszunutzen. Hinter dieser Überzeugung steckt eine Menge Politizismus, also die Vorstellung, der Kapitalismus liesse sich auf politischem Wege und schrittweise per Reformen aufheben. Doch eine „soziale Krisenlösung“ gibt es nicht und hat es auch nie gegeben.

Die wirtschaftliche Depression produziert Massenarbeitslosigkeit (die Hälfte der spanischen, griechischen und italienischen Jugendlichen sind ohne Arbeit) und eine autoritäre und repressive Reaktion auf Platzbesetzungen, Wiederaneignung von geräumten Wohnungen und Arbeitskämpfen. Wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, über die Abschaffung des Lohnsystems, über das Ende des Staates und über die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Menschen zu sprechen? Die globalen Kämpfe werden die Krise nicht lösen, sondern sie unausweichlich verschärfen. Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst, jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung. Jene Frage, die sich Linke in ihrer Reformborniertheit schon gar nicht mehr stellen.

Interview vom 17. September 2013 mit Timo Bartholl, der seit einigen Jahren in Rio lebt und politisch aktiv ist. Eine gekürzte Version dieses Interviews erscheint am 27.09.2013 in der schweizerischen Zeitung „vorwärts“ (www.vorwaerts.ch). Diese Langversion ist online zugänglich unter http://www.debatteforum.wordpress.com

Brasilien gehört weltweit zu den Ländern, die sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt haben. Wie kann dieser Prozess der kapitalistischen, sozio-ökonomischen Entwicklung beschrieben werden?

Das Wirtschaftswachstum Brasiliens ist gekennzeichnet durch Faktoren, die auch für andere BRIC-Länder charakteristisch sind, auch wenn wiederum jedes dieser Länder einen eigenen Mix an Faktoren aufweist. Für Brasilien können wir sagen, dass das Volkseinkommen absolut zugenommen hat, ohne dass sich jedoch massgeblich etwas an der extrem ungleichen Einkommensverteilung oder der Sozialstruktur geändert hat. Hierfür ist ein Indiz, dass viele der extrem Armen sich über Wasser halten, indem sie im Rahmen von Sozialprogrammen wie Bolsa Família durch Umverteilung einige Krümel des grossen Kuchens abbekommen und nicht, weil sie als Arbeitskräfte so in die Wirtschaft eingebunden sind, dass sie sich über Lohnarbeit am Leben halten können. Sicherlich finden wir die extremste Armut eher auf dem Land und eher im Norden und Nordosten Brasiliens, aber auch die grossen Städte sind von extrem ungleichem Zugang der BewohnerInnen zu jedweden Ressourcen geprägt.

In den Metropolen sind im Rahmen einer Ankurbelung der Binnennachfrage auch die Ärmeren zu umworbenen Konsument_innen geworden. Es vergeht keine Woche, da nicht irgendwo hier in der Nachbarschaft meiner Favela ein Karton eines neu erworbenen 40-Zoll-Flachbild-Fernsehers auf dem Müll liegt. Der Zugang zu materiellen Gütern ist auch für die ärmeren Klassen leichter geworden. Dabei wird allerdings ein Grossteil des Konsums über Kredite oder Ratenzahlungen finanziert, so dass es durchaus ökonomische Unsicherheitsfaktoren gibt. Es ist demnach immer mit Vorsicht zu geniessen, wenn regierungsnahe Forschungsinstitute den gestiegenen Wohlstand des Volkes über Kennzahlen wie „Familien mit x Kühlschränken, y Fernsehern und z Pkw“ meinen belegen zu können.

Hierbei ist ein Blick auf Art und Qualität dieser Entwicklung wichtig. Die Zunahme des materiellen Wohlstands nach rein westlichem Modell produziert neue Formen von Engpässen. Je mehr Menschen sich über Kredite finanziert in einer Metropolitanregion wie Rio de Janeiro oder São Paulo einen eigenen Pkw leisten können, desto länger werden die alltäglichen Verkehrstaus, die die grossen Ausfallstrassen zu Rush-Hour-Zeiten eher wie kilometerlange Parkplätze, denn wie Verkehrswege aussehen lassen. Wir können uns also mit dem Pkw unser eigenes blechernes Gefängnis leisten, in dem wir täglich einige Stunden eingesperrt im Stau verbringen. Auch die Basisinfrastruktur hält in keinem Falle mit diesen Entwicklungen mit: Im Hochsommer benutzen auch hier in den Favelas mittlerweile viele eine leistungsstarke Klimaanlage für ihre Wohnung, um trotz nächtlich-urbaner Tropenhitze für ein paar Stunden Schlaf zu finden. Da diese wiederum alle gleichzeitig eingeschaltet werden und so das prekäre Stromnetz überlasten, haben wir dann nächtelang nicht einmal Strom für den Ventilator. Die Wasserpumpen versagen auch den Dienst und als Erlösung bleibt nur eine Eimer-Dusche oder natürlich ein eiskaltes Bier.

Aus eher makroökonomischer Sicht müssen wir die Zusammensetzung der Ökonomie betrachten: In welchen Sektoren und mit welchen Mitteln findet Wirtschaftswachstum statt? Sei es die Agrarindustrie, die bevorzugt Export-Produkte wie Soja produziert und dabei Weltmeister im Einsatz von Agrarchemikalien ist, die auf vorwiegend genmanipulierten Varietäten versprüht werden und Agrarwüsten produzieren. Oder sei es in der Rohstoffextraktion, in der tonnenweise Rohstoffe gefördert und ausgebeutet werden, wie es sich kein Kolonialherr hätte träumen lassen. Dass unter Zusammenarbeit von PT-Regierung und Thyssen-Krupp westlich von Rio de Janeiro mit dem Bau eines Stahlwerks einer der grössten Skandale der Industriegeschichte fabriziert wurde, ist dabei keine einmalige Ausnahme, sondern ein mögliches Ergebnis der allgemeinen Logik, die hinter der Entwicklung steckt. Es geht um Wirtschaftswachstum um jeden Preis, oder besser für jeden potentiell machbaren Gewinn, wobei die Menschen nur insofern eine Rolle spielen, als sie als Konsument_innen auftreten. Je ärmer, desto irrelevanter sind sie demnach auch.

Für ganz Lateinamerika drückt sich diese Art von Wirtschaftspolitik – gerade auch durch progressive Regierungen wie die der Arbeiterpartei PT gefördert – gut im IIRSA-Plan aus. In dessen international vereinbartem Rahmen geht es darum, den gesamten Kontinent durch Infrastruktur-Grossprojekte besser an den Weltmarkt anzubinden. Neue Verkehrs- und Wasserwege werden quer durch den Kontinent gebaut, und nicht selten finden sich territorial verankerte ethnische Minderheiten ähnlich gewaltsamen Situationen ausgeliefert, die die letzten fünfhundert Jahre der Geschichte des Kontinents prägen. Die Adern Lateinamerikas sind weiterhin weit offen, um auf ein Buch Eduardo Galeanos Bezug zu nehmen, das so schnell nicht an Aktualität einbüssen wird.

Zu diesen Entwicklungen gehören auch kapitalistische Urbanisierungsprozesse. Gerade in Rio de Janeiro werden nun angesichts der Fussball WM 2014 und von Olympia 2016 massive Bauinvestitionen getätigt. Wie können diese Urbanisierungsprozesse beschrieben werden und was bedeuten sie für die Proletarisierten (in den Favelas)?

Grossevents in Städten wirken als Beschleuniger für ohnehin in der stadtpolitischen Entwicklung vorhandene Tendenzen. Sprich, wir dürfen nicht den Fehler machen, sie als alleinige Verursacher von Problemen auszumachen, sondern vielmehr muss klar sein, wie sehr die Städte als Unternehmen geführt und solche Grossereignisse zu dieser Art sie zu regieren passen. Die Kritik an diesen Prozessen ähnelt hier durchaus der Kritik an der Stadtentwicklung in den Städten des globalen Nordens, weil sich die Prozesse von der kapitalistischen Logik her sehr nahe stehen. Es sind die gleichen international vernetzten Planungsbüros, die Barcelona umzustrukturieren helfen, eine Hafen City in Hamburg planen oder eben den „Porto Maravilha“ in Rio de Janeiro, mit dem weite Teile des Zentrums und Teile des Hafens im Sinne einer Glanzprojektstadt des Investitionskapitals umgestaltet werden.

Lächerlich mutet es dabei an, wenn die Planer_innen und politischen Vertreter_innen dieser Prozesse so tun, als ginge es um mehr als das Streben nach Gewinn, basierend auf der Stadt als Ressource: Als in den korporativen Medien diskutiert wurde, ob der Kai für Luxusliner eine Y- oder H-Form haben solle (erstere würde anscheinend den Blick vom Ufer auf die Bucht versperren), kam das Argument seitens einer die H-Form verteidigenden Fachfrau, die Planung Rios müsse doch über Olympia 2016 hinausgehen und die Stadt als Ganzes betrachtet werden. Hört, hört! Rios Bürgermeister Eduardo Paes ist unterdessen in einem kurzen Video zu sehen, das im Internet verbreitet wurde in dem er offen zugibt, dass er die Grossevents bewusst als Entschuldigung für Umstrukturierungen benutzt, die bei der Bevölkerung auf Widerstand stossen. Medial versucht er sich als neuen Pereira Passos zu inszenieren, der Anfang des 20. Jahrhunderts Rios Zentrum umpflügte und „hygienisierte“, sprich einen grossen Teil der unteren Klassen gewaltsam aus dem Zentrum vertrieb.

Zumindest ist dieser Vergleich ehrlich: Allein hier in Rio müssen in den letzten Jahren über 100 Favelas Infrastrukturprojekten weichen. Und die Liste, die diese Favelas benennt, wurde direkt am Tag nach der Wahl Rios zum Austragungsort der Fussball-WM veröffentlicht! Sprich, diese Pläne existierten schon lange vorher. Mit den Entscheidungen, die Grossevents hier austragen zu „dürfen“, fielen die Investitions-Startschüsse, um in grossem Umfang die betroffenen brasilianischen Städte umzustrukturieren – über die Interessen und Bedürfnisse des Grossteils der Bevölkerung hinweg.

Wohn- und Lebenshaltungskosten sind in den Städten in kurzer Zeit so stark gestiegen, dass höhere Löhne oder leichterer Zugang zu Krediten und Konsumgütern sich im Verhältnis immer weniger positiv auswirken. Alles, vor allem natürlich die Regierungspropaganda, spricht von den vermeintlich guten Entwicklungen in der „Wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro, aber nach und nach können immer weniger Menschen in der Stadt leben, ohne grosse Einbussen der Lebensqualität hinzunehmen. Sie müssen aufgrund steigender Preise ihre Stadtviertel verlassen, werden aus der Favela vertrieben, die sie eigenhändig und kollektiv über Jahre errichtet haben.

In diesem Kontext entsteht Widerstand. Wie formiert und organisiert er sich?

Es gab während der letzten Jahre viele Formen, um gegen die gewaltsam von oben durchgedrückte Stadtumstrukturierung Widerstand aufzubauen. Sei es, dass Bewohner_innen einer Favela sich gegen ihre Zwangsräumung wehrten oder die Bildung eines Populären Komitees der Copa, das kritisch die WM-Vorbereitung begleitet. Über lange Zeit war die Schlagkraft von oben aber einfach zu gross. Auf allen Ebenen, im Stadtviertel, in einer Stadt oder in einer Region, wurden dabei so viele verbrecherische und menschenrechtsverachtende Umstrukturierungsmassnahmen zeitgleich durchgeführt, dass es schlicht unmöglich schien, im Sinne eines breiteren Widerstands überhaupt eigene Schlagkraft zu entwickeln. Zu den organisierten Formen des Widerstands gesellten sich dann ja ab Juni zum Glück die teils sehr spontanen und Millionen auf die Strassen bringenden Proteste, die dieses ungleiche Machtverhältnis etwas korrigiert haben.

Die massiven Proteste waren zunächst vor allem gegen weitere Fahrpreiserhöhungen eines prekäreren Transportnetzes und die Ausrichtung des Confed-Cups gerichtet, womit sie Kernbereiche der negativen Entwicklungen der letzten Jahre betrafen. Durch Baumassnahmen stehen die durch Räumungen oder auch steigende Mietpreise in entfernte Stadtviertel verdrängten Arbeiter_innen viel länger in überfüllten Bussen in endlosen Staus, um zu ihren Arbeitsstätten zu gelangen. Dafür sollen sie auch noch immer mehr bezahlen – wobei, wer einen geregelten Arbeitsplatz hat, vom Arbeitgeber ein Ticket bezahlt bekommt. Die vielen Millionen, die durch korrupte Politiker als öffentliche Gelder für Stadien und begleitende Infrastrukturmassnahmen durch korrupte Politiker an den mafiös organisierten Bau- und Transportsektor vergeben werden, fehlen spürbar an allen Ecken und Enden in Bereichen wie Bildung und Gesundheit. Da ist also kollektiv vielen Betroffenen zeitgleich der Kragen geplatzt. „Mit uns keine weiteren Fahrpreiserhöhungen zugunsten der Transport-Mafia“ und: „Es wird keine WM geben!“

In der Mega-Metropole São Paolo startete der Protest der Bewegung für freien öffentlichen Transport. Was steckt hinter dieser Bewegung?

Da sprichst du das interessante Verhältnis zwischen organisierten sozialen Bewegungen und spontanen Massenprotesten an. Über Jahre hinweg gab es in mehreren Städten Brasiliens eher im studentischen Milieu angesiedelte städtische soziale Bewegungen gegen Fahrpreiserhöhungen, für öffentlichen und gegen privatisierten Personennahverkehr. Teils durchaus mit Schlagkraft wie etwa in Florianopolis wurde in den letzten Jahren regelmässig zum Zeitpunkt geplanter Fahrpreiserhöhungen demonstriert. Eine soziale Bewegung, die sich in mehreren Städten formierte, ist das Movimento pelo Passe Livre (MPL = Bewegung fürs kostenlose Ticket). Im Falle des MPL São Paulo etwa ist damit wirklich die Forderung nach freier Fahrt für alle gemeint, sprich die öffentliche Finanzierung des Personennahverkehrs.

Die explosive Mischung, die sich in den Städten durch die schon besprochenen Entwicklungen ergab, führte dann plötzlich und in ihrer Dimension völlig überraschend zu Massenprotesten. Zunächst in mehreren Grossstädten, am Donnerstag, den 20.Juni dann sogar in über 400 Städten brasilienweit und mit mehr als vier Millionen Menschen auf den Strassen. Auf einmal wurde der Widerstand gegen die Transportmafia zu einem Kristallisationspunkt, der überall Tausende auf die Strassen brachte. Hier in Rio war es das Forum gegen die Erhöhung der Fahrpreise, das zu Protesten aufrief. Waren noch im Mai teilweise nur 20 bis 30 Leute bei den Treffen des Forums, kamen nach der grossen Demonstration am 20.Mai dann auf einmal 3.000 Leute zusammen, um die Bewegung um zusätzliche politische Forderungen zu erweitern und nächste Schritte zu diskutieren und zu planen.

Wer ist eigentlich in Brasilien auf die Strasse gegangen (Klassenzusammensetzung der Proteste)?

Das ist eine Frage, die hier viel diskutiert wird und letztlich nicht klar zu beantworten ist. Zunächst einmal hat Brasilien kontinentale Ausmasse und es gab in so vielen Ecken des Landes Proteste. Einerseits in den Zentren mit einer breite Facette an Forderungen, mal gegen die WM mit Demo-Zügen, die versuchten während der Confed-Spiele bis zum Stadion vorzudringen. Aber teilweise auch an Verkehrswegen in eher ländlichen Gebieten, wo Mautstationen kurz und klein geschlagen wurden. Tendenziell waren auf jeden Fall Schüler_innen und Student_innen am zahlreichsten auf den Strassen vertreten und auch Protagonist_innen der meisten Mobilisierungen, unter ihnen wiederum wohl in der Mehrheit Segmente der Mittelschicht.

Ich denke, je grösser die Proteste waren, desto mehr durchmischte sich das Ganze, andererseits gab es auch verschiedene kleine Demonstrationen mit klarem Protagonismus von Favela-Bewohner_innen, wie zum Beispiel bei dem Widerstand gegen das Verschwinden eines Bewohners der Favela Rocinha, der fast sicher von Polizisten der militärischen Pazifizierungseinheit umgebracht wurde. „Wo ist Amarildo?“ wurde zu einem Identifikationsausruf der Proteste weit über Rio hinaus.

Als die Proteste sich hier in Rio stärker in die Vororte ausbreiteten, setzte die Militärpolizei mit der „Chacina da Maré“ jedoch ein eindeutiges Zeichen. In Favelas der Maré wurden in einer Nacht des Terrors im Anschluss an eine Demonstration mindestens zehn Menschen getötet. Ein Hinweis darauf, wie der Staat regieren würde, sollten die unteren Klassen auf die Idee kommen, auch in ihren Vierteln massiv auf die Strassen zu gehen, da ja die meisten Proteste bis dahin räumlich eher aufs Zentrum oder auf Wohnviertel der Mittelschicht begrenzt waren.

Wie sind die Bewegungen in São Paulo und diejenigen in Rio de Janeiro miteinander verbunden?

Insgesamt haben die grossen Metropolitanregionen Brasiliens solche Dimensionen, dass sich aus Sicht des politischen Widerstands ein Grossteil der Aufmerksamkeit auf die eigene Region fokussiert. Intensivere Kontakte zwischen Gruppen und sozialen Bewegungen zwischen den Metropolen aufrecht zu erhalten ist noch einmal eine grössere Herausforderung als es dies in der eigenen Region ohnehin schon ist. Als auf einer der ersten Demos im Juni in Rio Sprechchöre gegen den unter anderem für gewaltsame Räumungen verantwortlichen Bürgermeister São Paulos Haddad (PT) laut wurden, war symbolisch eine Brücke hergestellt, die sich durch viele weitere Formen von solidarischen Protesten und Austausch zwischen den Bewegungen beider Metropolen weiter gestärkt hat. Wie in allen Bereichen denke ich, hat diese Protestbewegung viele Fortschritte gebracht, auch was die Zusammenarbeit und die Kontakte zwischen sozialen Bewegungen in Rio und São Paulo betrifft, wobei dabei vor Allem Austausch und Zusammenarbeit zwischen den Periferien und den sozialen Bewegungen der unteren Klassen eine permanente, nicht einfach realisierbare, Herausforderung bleibt.

Inwiefern hatte der globale Protestzyklus (Ägypten, Türkei etc.) einen Einfluss auf den Ausbruch der Mobilisierungen in Brasilien? Und damit verbunden die Frage nach dem „nationalen“ und „nationalistischen“ Charakter der Bewegungen in Brasilien.

Der Einfluss des globalen Protestzyklus ist nicht zu unterschätzen, vor allem, denke ich, in Bezug auf das Repertoire an möglichen Formen, Wut in Form von Protest auf die Strasse zu tragen. Die mediale Präsenz der letzten Jahre von massenhaften Bewegungen und Riots rund um den Globus hat viele vor allem junge Menschen hier wohl durchaus beeindruckt und sicherlich kam verstärkt der Wunsch auf, auch einmal Protagonist von solchen Prozessen zu sein – umso mehr, je arroganter und wahnwitziger die Stadtpolitik die letzten Jahre gegen den Willen vieler und im Sinne des (Investitions-)Kapitals durchgesetzt wurde. In vielen Sprechchören bezogen sich die Demonstrierenden auf die Proteste anderer Länder: „Unsere Trägheit ist zu Ende, hier wird’s jetzt zu Griechenland!“

Nationalismus war teilweise sehr stark vertreten, ausgedrückt durch die Präsenz von Nationalfahnen und das Singen der Nationalhymne. Es herrscht durchaus Uneinigkeit, wie dies aus linker Sicht einzuschätzen ist. Genoss_innen sprechen von einem „diffusen Nationalismus“, der ein Problem ist, da andere Bezugspunkte und Identifikationsfiguren fehlen und zu einem ernsteren Problem werden kann, wenn er sich vertieft und festigt. Das sehen aber vorwiegend libertäre Kreise so, die sich im Rahmen der Proteste deutlich ausgeweitet haben. Autoritäre linke Strömungen haben ebenso wie breite Segmente der Bevölkerung einen durchaus positiven Bezug zu einem brasilianischen Nationalismus. Aus meiner Sicht ist es ein grosses Problem, dass vor allem viele junge Leute sich im Moment des Protestierens als aller erstes auf „ihre“Nation beziehen, was wiederum Gründe hat, die man versuchen muss zu verstehen. So wurde von den sehr einflussreichen privaten Medien, wie immer allen voran Globo, versucht genau diesen Grün-Gelb-Karnevals-Nationalismus zu forcieren. Den Bericht zu einer Demo mit zehntausend Teilnehmer_innen und vielleicht fünfzig davon mit Nationalfahnen bebilderte Globo damit, wie eine dieser Fahnen von einer isolierten Einzelperson vor den Treppen des Nationaltheaters geschwenkt wurde. Es sollte insgesamt ein Bild erzeugt und die Dynamik dahingehend manipuliert werden, die Proteste seien „für Brasilien und gegen Korruption“ um sie politisch auszuhöhlen. Das gelang den grossen Medien aber weniger als in nicht so bewegten Zeiten üblich. Immer wieder wurden, durch soziale Netzwerke und Onlinepublikationen ermöglicht, Gegenöffentlichkeiten hergestellt und die Strasse selber war letztlich ein Ort, der eben unmittelbar die Menschen zusammen brachte und wo sie auf vielfache und kreative Weise miteinander kommunizierten. Hier waren die privaten Medien nicht nur nicht erwünscht, sondern wurden oft lautstark vertrieben, in einiugen Fällen wurden Ü-Wagen in Brand gesteckt.

Für mich war die Erfahrung des 20. Juni hier im Zentrum Rios sehr prägend und Ausdruck dafür, wie widersprüchlich die Dynamik in Anbetracht von die Versuchen, die Spontaneität auf der Strasse in eine Richtung zu lenken, sein konnte: Zunächst wirkte ein Grossteil der Demo mit wohl fast einer Millionen vorwiegend jungen Leuten fast wie ein Confed-Cup-Fest, wirklich viele waren in grün und gelb gekommen. Als die Militärpolizei vor dem Gebäude der Stadtregierung dann von einer Minute auf die nächste Tränengas- und Gummipatronen auf die Demonstrierenden schoss und eine brutale mehrstündige Hetzjagd durchs Zentrum einleitete, reagierten Massen von Demonstrierenden mit massiver Zerstörung der urbanen Infrastruktur. Binnen kurzer Zeit stand das gesamte Fifa-Fan-Fest-Gelände lichterloh in Flammen, das Zentrum wurde strassenzugweise verwüstet. Die Dimension der Zerstörung und die widerständigen Energien, die an diesem Abend frei gesetzt wurden, sind unabhängig von einer politischen Bewertung, beeindruckend.

Wie reagiert die öffentliche, institutionelle Politik auf diese massiven Bewegungen und Proteste, sowohl in Rio, wie auch in São Paolo?

Die Polizei reagierte unmittelbar mit sehr viel Gewalt, was zunächst zusätzlich mobilisierte und aus Sicht der unteren Klasse und Favelbewohner_innen breiten Segmenten der Gesellschaft deutlich machte, wie sehr im Verhalten der Militärpolizei die Militär-Diktatur, die offiziell 1985 endete, keineswegs überwunden ist. „In der Favela sind die Geschosse nicht aus Gummi“ oder „Die Polizei, die auf der Avenida unterdrückt, ist die gleiche, die in den Favelas tötet“ sind dabei Protestrufe, die dies in Worte fassen. Da bei den ersten Protesten auch JournalistInnen von Gummigeschossen verletzt wurden, schlugen sogar führende konservative, private Medien kurzfristig kritische Töne gegenüber des verhaltens der Polizei an.

Insgesamt wird von öffentlicher Seite von Beginn an versucht, jedwede Form von kollektiver direkter Aktion und Gewalt gegenüber öffentlichen oder privaten Gütern vereinzelten Randalierern in die Schuhe zu schieben, die ordentliche BürgerInnen beim Ausüben ihres demokratischen Rechts friedlich zu demonstrieren stören und rigoros verfolgt werden müssen. Auch Teile der Linken positionieren sich da teilweise unglücklich und tragen damit zu einer Schwächung der politischen Debatte bezüglich der Forderungen, die bei den Protesten laut werden, zu ungunsten einer Debatte, die auf das Für und Wider der Gewalt auf der Strasse reduziert ist, bei.

Wie stehen diese Bewegungen zu den „historischen Bewegungen“ z.B. den landlosen Bauern (MST) und den Gewerkschaften (v.a. in den industriellen Zentren)?

MST und andere schlagkräftige Bewegungen auf dem Land haben seit den 80ern eine ganze Generation sozialer Bewegungen in Lateinamerika mit ihrer Protestkultur geprägt. Hier in der Stadt politisch aktiv zu sein, hiess immer auch respektvoll und durchaus wehmütig aufs Land zu schauen, wo Widerstand konkreter und schlagkräftiger organisiert ist. Mit den jetzigen Protesten kamen in den Städten ganz neue Formen auf, ganz andere Zusammenhänge spielen eine Rolle. Selbst aus Reihen des MST fiel es dabei den eher autoritären Strömungen dieser sehr breiten Bewegung nicht leicht, mit der politischen Unkontrollierbarkeit der Massen umzugehen. Rechte Tendenzen, die durchaus unter Teilen der Protestierenden vorhanden waren, machten sich einige rechtsradikale Schlägertrupps zu Nutze, um linke Fahnenträger zu verprügeln. Ein Autor aus Reihen des MST warnte auf der Internetseite der linke Zeitung „Brasil de Fato“ in einem Kommentar zu den Ereignissen dann gar vor einem Militärputsch, was als Extremfall die Tendenz verdeutlicht, dass die Haltung „Ohne Partei!“, die in den Protesten weit verbreitet war, durch autoritäre Linke sofort als „Gegen Parteien!“ interpretiert und als solche Haltung dämonisiert wurde.

Wie steht es heute um die brasilianische Protestbewegung?

Die grosse brasilienweite Protestwelle ist abgeflaut, aber es blitzt vielerorts und kontinuierlich Widerstand in neuartigen Dimensionen auf, sowohl was die Entwicklung sozialer Bewegungen betrifft als auch spontane Proteste. Gerade jetzt am Wochenende war zu lesen, dass Bewohner_innen einer kleinen Stadt im Süden des Bundesstaates von Rio in einem spontanen Protest gegen willkürliche Polizeikontrollen, die zu einem tödlichen Unfall einer Motorradfahrerin führten, mehrere Polizeiwägen in Flammen aufgehen liessen und ein Polizeigebäude in Trümmer legten. Ähnlich wie bei den gerade fast täglich stattfindenden „Quebra-quebras“, bei denen Fahrgäste die Züge demolieren oder in Brand stecken, in denen sie immer wieder auf halber Strecke liegen bleiben, sind dies aussagekräftige Formen gezielt eingesetzter spontaner direkter Aktion. Ruhe wird so schnell nicht einkehren.

Was soziale Bewegungen betrifft, haben sich Teile radikalisiert, was hier unter dem Schlagwort „Black Bloc“ auch in den Medien viel diskutiert und seitens des Staates zunehmend kriminalisiert wird. Was die Gewerkschaften betrifft, die allgemein regierungsnah und stark bürokratisiert sind, bringen in diesem nachfolgenden, sich breit fächernden Kampfzyklus die ArbeiterInnen, wie gegenwärtig LehrerInnen öffentlicher Schulen in Rio, von unten her Schwung in die grösstenteils kooptierte Gewerkschaftslandschaft. Insgesamt sind aber weite Teile der Linken von einer Haltung geprägt, die Protest und Widerstand soweit gut heisst, wie mit ihm Druck auf die PT-Regierung ausgeübt wird, ohne diese dabei jedoch ins Wanken zu bringen. Da kommt dann direkt die Drohung eines Rechtsrutsches und es wird doch wieder das vermeintlich kleinere Übel verteidigt, wie es auch vor Wahlen der Fall ist: „Gegen die Politik der PT-Regierung ok, aber wählen müssen wir sie bitte trotzdem alle vier Jahre!“

Gibt es einen politischen Ausdruck dieser sozialen Bewegungen, die tatsächlich die Macht der Herrschenden in Frage stellen kann?

Es gab durchaus konkrete Erfolge der Protestbewegungen. Die Fahrpreiserhöhungen wurden in mehreren Städten zurück genommen, wobei davon auszugehen ist, dass gerade direkte Aktionen, bei denen Banken, Regierungsgebäude und öffentliche Infrastruktur attackiert und zerstört wurden dazu beitrugen, den dazu notwendigen Druck aufzubauen. Weitere Erfolge hier in Rio sind etwa die Rücknahme der Pläne, die Favela Vila Autódromo oder das indigene Museum abzureissen, was direkte Forderungen seitens der Protestbewegungen der letzten Jahre waren.

Insgesamt hat sich das politische Klima geändert. An die Seite der Arroganz der Regierenden gesellt sich sicherlich mehr als zuvor die Sorge vor möglichen Reaktionen von unten. Auf allen föderalen Ebenen sind die Beliebtheitsgrade der Regierenden drastisch gesunken. Dennoch sitzt das politische System weiterhin fest im Sattel, es sind bisher keine politischen Köpfe gerollt und Präsidentin Dilma reagierte auf die Proteste mit einer zehnminütigen nationalen Fernsehansprache mit fünf oberflächlich formulierten „Pakten“ und verlässt sich wohl weiterhin darauf, dass bedingungsloses Wirtschaftwachstum im Rahmen des „novo desenvolvimentismo“ und zunehmende Erträge aus Erdölvorkommen ihre Macht weiterhin sichern.

Es ist also noch ein weiter Weg, aber bis zu WM und Olympia ist noch Zeit, sich weiter und breiter zu organisieren. Da wirtschaftliche Entwicklungen und damit verbunden politische Entscheidungen weiterhin Widersprüche erzeugen und soziale Gegensätze verschärfen werden, wird sicher auch weiter Druck von unten erzeugt und spür- und sichtbar werden. Die Situation bleibt weiter spannend.

ÄgypterInnen, MarokkanerInnen, TunesierInnen und Bengali: Sie sind die Arbeitskräfte, die täglich mehrere Tonnen Waren ein- und ausladen. Der italienische Logistiksektor konzentriert sich auf die Regionen Mittelitaliens. Zurzeit arbeiten circa 460 000 Beschäftigte im Sektor. Doch das Wachstumspotential ist enorm. Damit erhöhen sich auch die ArbeiterInnenmacht und die Möglichkeit sozialer Auseinandersetzungen.

Für die Tage des 22. März, des 15. Mai und des 8. Juni riefen die LogistikerInnen, unterstützt von den Basisgewerkschaften (Si Cobas – Sindacato Intercategoriale Cobas – Lavoratori autorganizzati), zu Generalstreiks im Sektor auf. Diese Generalstreiks, die sich auf einen Tag beschränkten, bildeten die Basis einerseits einer Vernetzungsarbeit zwischen den Lagerhäusern der unterschiedlichen Logistikgenossenschaften in der Region Emilia Romagna, wo sich die Mehrheit der Lagerhäuser konzentrieren, andererseits der politischen Subjektwerdung dieser Menschen.

Die Umbrüche in der italienischen Logistikbranche deuten darauf hin, dass die ArbeiterInnenklasse zwar nicht gerade auf dem Weg «ins Paradies», jedoch auch nicht im Verschwinden begriffen ist. Die ArbeiterInnenklasse hat nur ihr Äusseres und ihre Arbeitsorte verändert. Sie hat sich in den neuen «Logistikgürteln» Mittelitaliens verschoben – und somit verschieben sich auch die kapitalistischen Widersprüche und die darin verborgenen Potentiale für die ArbeiterInnen.

Eine Wachstumsbranche

Zurzeit beschäftigt der italienische Logistiksektor 460 000 vornehmlich prekarisierte ArbeitsmigrantInnen. Werden die vor- und nachgelagerten Bereiche der Logistik dazu gezählt, beziffert sich die Beschäftigtenzahl auf 1 Million ArbeiterInnen. Mit 200 Milliarden Euro Umsatz jährlich macht die Branche 13 Prozent des italienischen Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. 100 000 Unternehmen sind in der Branche tätig. In der gesamten europäischen Union produziert die Branche 10 Prozent des BIP.

Anfang Januar 2012 wies der unter der technokratischen Regierung Monti agierende Infrastruktur- und Transportministier Corrado Passera darauf hin, dass Reformen in der Logistikbranche zur strategischen Priorität Italiens gehören. Die ökonomischen Ausfälle beliefen sich aufgrund ungeeigneter Infrastrukturen und organisatorischer Ineffizienz auf 60 Milliarden Euro jährlich. Ein «kompetitives System» könne bis zu 2 Millionen ArbeiterInnen aufsaugen. Ganz so einfach können diese Entwicklungen jedoch nicht angestossen werden. Zurzeit ist die Logistik auf den europäischen Konsum orientiert, der jedoch aufgrund der anhaltenden Krise kaum wachsen wird. In Zukunft müssen sich die Unternehmen also am Export in die aufstrebenden Märkte orientieren, auf denen die Nachfrage nach Gütern bedeutender ist.

Eine «neue» ArbeiterInnenklasse

Würden in absehbarer Zeit die Reformen in der Logistikbranche tatsächlich starten, bedeutete dies eine massive Proletarisierung subalterner Klassen in Italien und ein Wandel der «technische» Seite der Klassenzusammensetzung: Prekarisierte ArbeiterInnen aus dem Maghreb und den arabischen Ländern bilden heute die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten im Sektor. Doch auch die von der massiven Arbeitslosigkeit betroffenen süditalienischen ArbeiterInnen würden als industrielle Reservearmee fungieren, wie dies auch schon in den Tomatenplantagen Kalabriens der Fall ist. Gerade im sizilianischen Termini Imerese, wo die Schliessung eines Fiat-Werkes 1500 ArbeiterInnen arbeitslos gemacht hat, soll nun ein logistischer Pol entstehen, welcher von der EU subventioniert wird. Proletarisierte MigrantInnen und arbeitslose ArbeiterInnen aus dem Süden kommen somit vermehrt zusammen, nicht nur im unmittelbaren Produktionsprozess, sondern auch bezüglich der Form der Reproduktion (z.B. Wohnzusammenhang).

Die falschen Kooperativen

Heute werden die Profite über die Beschleunigung des Produktionsprozesses und der Ausbeutung der rationalisierten Arbeit generiert. Diese Prozesse basieren auf das System der Genossenschaften, welches seine Ursprünge der gegenseitigen Hilfe vollständig verloren hat und nun zum Wegbereiter der Deregulierung der Arbeit geworden ist. Die Beteiligung als GenossenschafterInnen ist eine regelrechte Farce: Die ArbeiterInnen sind gezwungen, einen bestimmten Betrag als «Beteiligung» an der eigenen Ausbeutung einzuzahlen. Genossenschaften sind zudem nicht gezwungen, tarifvertragliche Bestimmungen einzuhalten und für die LogistikerInnen hat die Bezeichnung «GenossenschafterIn» statt «ArbeiterIn» zur Folge, dass sie im Falle von Entlassungen das Recht auf vollständige Arbeitslosenentschädigung verlieren. Als GenossenschafterInnen tragen sie jedoch die ökonomischen Risiken mit, ohne überhaupt in den Genossenschaftsversammlungen eine Entscheidungsmacht zu haben. Die Genossenschaften stellen das letzte Glied der Produktions- und Distributionskette dar. Die Mechanismen gleichen denjenigen der Werkverträge (Subunternehmen bzw. Unterakkordanz): Die AuftraggeberInnen, also die produzierenden Unternehmen, vergeben die logistischen Dienstleistungen an Zweite, die wiederum die Tätigkeiten in den Lagerhäusern an Dritte vergeben. Diese «Dritten» sind meist die Genossenschaften, die äusserst wettbewerbsfähige Dienste dank den tiefen Preisen der Arbeitskraft gewährleisten.

Widerstand formiert sich

Auf der Basis dieser materiellen Produktionsbedingungen haben sich im Frühjahr Widerstandbewegungen formiert, die auch in Streiks gemündet haben. Im April kündigten einige im Grossraum Bologna und Modena tätige Genossenschaften Lohnkürzungen von 35 Prozent aufgrund eines angeblichen «Krisenzustandes» an. 41 ArbeiterInnen haben daraufhin gestreikt und forderten neben dem Lohnerhalt die Anerkennung des nationalen Tarifvertrags. Die Genossenschaften reagierten mit Entlassungen und unbefristeter Freistellung. Der Konflikt spitzte sich zu, Blockaden und Streikposten wurden errichtet, Demonstrationen und Boykott-Initiativen organisiert. Nach 70 Tagen konnten die Streikenden erreichen, dass die Monate, während denen die ArbeiterInnen «entlassen» waren und dagegen gekämpft hatten, rückwirkend bezahlt wurden. Zudem sollte ein Teil der Entlassenen ab September wieder eingegliedert werden. Während der Mobilisierung wurde zu drei eintägigen Generalstreiks im ganzen Logistiksektor aufgerufen. Diese Prozesse stellen die «politische» Seite der Klassenzusammensetzung dar, also die Bestrebungen, sich gegen das Kapital zu wenden und ihren Zusammenhang als Arbeitskräfte als organisatorischen Ausgangspunkt ihres Kampfes zu nutzen.

Und die Gewerkschaften?

Die Frage der gewerkschaftlichen Repräsentanz stellte sich in diesen Arbeitskämpfen. Die CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) hat sich politisch schon lange zurückgezogen und akzeptiert die Entwicklungen in der Logistikbranche fast schon als «natürliche Gegebenheiten». Die Ugl (Unione Generale del Lavoro), eine korporativistische Gewerkschaft, die aus den neofaschistischen Gruppen gewachsen ist, hat mit den Genossenschaften ein Abkommen zur Anerkennung des «Krisenzustandes» und somit der Lohnkürzungen unterzeichnet.

Die Basisgewerkschaft Si Cobas hingegen hat von Anfang an die kämpfenden LogistikerInnen unterstützt, schlussendlich aber auch ein Abkommen unterzeichnet mit den Genossenschaften. Der nationale Koordinator der Si Cobas argumentiert folgendermassen: «Wir haben unterschrieben, weil wir gezwungen waren. Wir hätten keine weiteren Streikposten mit über 50 ArbeiterInnen ohne Lohn unterstützen können. Unsere Streikkasse ermöglicht dies nicht. Darum haben wir dieses Abkommen unterzeichnet, das uns aber nicht zufrieden stellt. Die Blockaden und die Streiks werden ab September wieder aufgenommen, falls nicht alle Entlassenen wieder eingestellt werden.» Der nationale Koordinator fügt hinzu, dass die Tatsache, dass überhaupt Verhandlungen haben stattfinden können, die Gewerkschaft gestärkt hat. Durch Verhandlungen und Abkommen hat die Si Cobas somit erreicht, dass sie als Verhandlungspartnerin anerkannt wurde. Doch für die ArbeiterInnen ist das Ziel eines Streiks nicht die Verhandlung, sondern das zu erreichende Resultat. Die Si Cobas sieht sich in der heutigen Situation gezwungen, die Verhandlung als solche zu gewichten und als Gegenseite anerkannt zu werden. Die kleine Basisgewerkschaft springt somit in die Bresche, welche die grossen Gewerkschaften durch ihren Rückzug geöffnet haben. Damit wird aber nicht der Klassenstandpunkt, sondern die sich ergänzende Aufgabenteilung zwischen den grossen und kleinen Gewerkschaften gestärkt. Ob die Logistik-ArbeiterInnen diese Form der gewerkschaftlichen Repräsentanz akzeptieren, hängt stark vom Verlauf der zukünftigen Kämpfe ab.